24. Juli 2024

Musik, die ins Ohr kriecht und den Rücken hinunterrieselt: Erlebnisreportage über Peter Maffays Abschiedskonzert in Stuttgart

Wie oft sind wir diesen Weg schon gegangen. Zu Konzerten von Elton John, Bonnie Tyler, Rod Stewart, Suzi Quatro, Phil Collins, Deep Purple, The Who oder Roland Kaiser. Diesmal geht‘s nicht wie sonst in die Schleyer-Halle, Porsche-Arena oder das daneben liegende Bundesligastadion, in dem der VfB Stuttgart spielt, sondern erstmals auf den Cannstatter Wasen. Dort, wo sonst die großen Volksfeste stattfinden, wird es heute ein riesengroßes Abschiedsfest geben.
Peter Maffay singt „Du“, mit dem er im März 1970 ...
Peter Maffay singt „Du“, mit dem er im März 1970 in der ZDF-Hitparade debütierte. Fotos: Helmut Heimann
Es ist unser letzter Weg, nicht im Leben, sondern zu dem aus Siebenbürgen stammenden Musiker Peter Maffay, der sich in Stuttgart von seinen Fans verabschieden wird. Kaum zu glauben. Auch, dass Maffay etwas geschafft hat, das weder den zuvor Genannten noch den Rolling Stones, Madonna, Michael Jackson, ABBA, Tina Turner oder den Beatles gelungen ist, von denen ich als Kind eine Autogrammkarte mit Originalunterschriften aus Liverpool ins Banat geschickt bekommen habe. Maffay ist mit 20 Nummer-eins-Alben der erfolgreichste Künstler in den deutschen Charts. Keine(r) konnte Peter dem Großen das Wasser reichen.

Wie uns ergeht es Abertausenden. Sie strömen auf den Wasen, wo am 16. Juli das zweite Konzert stattfindet. Wegen der großen Nachfrage gab es tags zuvor eine Zusatzvorstellung. Stuttgart ist drittletzte von zwölf Stationen mit fünfzehn Konzerten der deutschlandweiten Open Air-Tournee „We Love Rock 'n' Roll – Farewell Tour 2024“, in Stadien und Arenen mit 320.000 Besuchern, davon 32.000 an zwei Tagen auf dem Wasen. Sie werden wie wir Maffays Abschied von der Tourneebühne mit Wehmut im Herzen erleben. Weil weit und breit niemand in Sicht ist, der die von ihm hinterlassene Lücke schließen wird.

Zu öffnen begann sie sich am 22. September 2023, als eine Meldung in Deutschland für Aufsehen sorgte. Auf Seite 1 der BILD stand die Schlagzeile in großen Lettern: „Bühnen-Aus für die Liebe“. Europas größte Tageszeitung, für die ich mehr als 22 Jahre als Redakteur gearbeitet habe, schrieb: „Deutschlands erfolgreichster Rocker nimmt nach 54 Jahren Abschied von der großen Bühne! Peter Maffay (74) geht vom 21. Juni bis 20. Juli 2024 ein letztes Mal mit seiner Band auf große Stadion-Tournee. Der Grund ist die Liebe!“ Der Sänger zu BILD: „Mein Zeitfenster wird enger. Deshalb möchte ich mehr Zeit für Hendrikje, meine Kinder Anouk und Yaris – und auch für mich haben. Meine Familie hat absolute Priorität für mich.“ Er sei „glücklich mit der Entscheidung“. „Wir leben recht normal und absolut bodenständig. Ich freue mich schon sehr auf diese Zukunft.“ Und wir uns auf das allerletzte Tourneekonzert mit ihm. Die Playlist umfasst 23 Titel. Auf zwei davon warte ich besonders.

Um 19.30 Uhr ertönt ein brummender Sound. Der Geruch von Abgasen liegt in der Luft. Easy-Rider-Feeling auf dem Wasen. Peter Maffay fährt mit einer schnittigen Harley Davidson auf die Bühne und gibt von Anfang an Vollgas für eine musikalische Traumreise, auf die er drei Generationen unter den Zuschauern durch die vergangenen fünfeinhalb Jahrzehnte begleitet – mit einem Best-Off-Programm seiner Titel der 70er, 80er, 90er bis heute. Eine rasante Fahrt auf der Überholspur, die groovig mit dem Song „Schatten in die Haut tätowiert“ startet. Darin heißt es: „Für einen Easy Rider, da ist der Highway nie zu Ende“, gefolgt vom fetzigen Titel „Carambolage“. Rock vom Feinsten! Dann ein abrupter Stilwechsel. Das erste von mir erwartete Stück erklingt. Für mich das gefühlvollste aller Maffay-Lieder. Ein Wort, zwei Buchstaben, knapp fünf Minuten Musik, die ins Ohr kriecht und den Rücken hinunterrieselt: „Du“. Auf einer Videoleinwand werden bunte Bravo-Cover mit dem jungen Maffay gezeigt. „Du“ und Bravo – ich schließe die Augen und träume von einer längst vergangenen Zeit, als brütende Mittagshitze über der Banater Heide liegt. Und ich mich in der wohligen Kühle des Jugendzimmers auf der Couch ausstrecke, neben mir ein Rundfunkgerät, an den vollgeklebten Wänden unzählige Poster aus der Jugendzeitschrift Bravo, die mir mein Vater von einem Deutschlandbesuch mitgebracht hatte.

Ich höre Radio Adria. In den 70er Jahren strahlt der deutschsprachige Rundfunksender aus Italien in den Sommermonaten Musik für deutsche Touristen an der Adriaküste aus. Im Banat ist Radio Adria gut zu hören und „Du“ eines der meistgespielten Lieder. Kein Wunder, denn der Titel katapultiert den 20-jährigen Maffay schlagartig in den deutschen Schlagerhimmel, direkt auf Platz eins der Hitparaden. Sein erstes Nummer-eins-Album. Aus einem Unbekannten wird über Nacht ein Star, dessen „Du“ zum Hit des Jahres 1970 aufsteigt und mit einer Goldenen Schallplatte für 500 000 verkaufte Singles ausgezeichnet wird. Die glockenhelle Stimme von Maffay erklimmt unerreichbar scheinende Höhen. Gänsehaut pur! Wie lange ist das jetzt schon her und doch, als wäre es erst gestern gewesen. Wo ist die Zeit nur hin?

Die Originalversion hat 23 Millionen Aufrufe auf YouTube erhalten. Sagenhaft! Auf dem Wasen singt Peter den Schlager nicht schmalzig wie früher, sondern in einer modernen Fassung. „Ein Lied nicht aus einem anderen Jahrhundert, sondern einem anderen Jahrtausend“, scherzt er. Trotzdem hat er „Du“ nicht links liegenlassen, dem er so viel zu verdanken hat. „Damit hat alles angefangen“, sagt er. Und fordert zum Mitsingen auf, „wer sich noch an den Text erinnert“. Das taten viele. Sie singen textsicher mit und schunkeln, als sei die Eröffnung des Cannstatter Volksfestes um zwei Monate vorverlegt worden.

Das tun sie auch bei dem anderen Klassiker „Und es war Sommer“, wo sie das „Piu! Piu! Piu!“-Gitarrenmotiv mitsingen. Die Zuschauer sind elektrisiert und begeistert. „Während der Tour haben wir dieses Lied wegen des Wetters mehrmals in Jacken gesungen“, meint Maffay. Heute muss er es nicht. Die Sonne heizt die Stimmung an und Maffay mit cooler Musik dem Publikum ein. Selbst als die Sonne sich nach 21 Uhr schlafen legt, wird es nicht dunkel. Dafür sorgen die vielen Handylichter und später der Kulthit „Sonne in der Nacht“. Ein Fünfsterne-Song mit klarer Stimme, die unter die Haut geht.

Unmittelbar davor steht um 21.40 Uhr der andere von mir erwartete Titel auf dem Programm. „Über sieben Brücken“ jagt mir einen wohligen Schauer über den Rücken. Meine Gedanken rasen wieder in die Vergangenheit. 1978, Temeswar, Olympiahalle. Sie ist rappelvoll, obwohl eine unbekannte Musikgruppe aus der DDR namens Karat auftritt. Drei Jahre zuvor gegründet, tourt sie erstmals durch Rumänien mit acht Konzerten in Siebenbürgen (Mediasch, Kronstadt, Schäßburg) sowie im Banat. Und wie ein Edelstein mit ganz viel Karat funkeln und glitzern die Lieder von Karat. Ganz besonders „Über sieben Brücken“. Ende 1977 in einem Ostberliner Studio aufgenommen, wird die Rockballade zu einem Riesenhit, in 30 Sprachen übersetzt, von mehr als hundert Interpreten gesungen. Darunter Peter Maffay, der hin und weg ist, als er das Lied zum ersten Mal im Radio hört. Er trifft Karat 1980 beim Konzert in Wiesbaden, bekam die Erlaubnis für eine Coverversion und arrangierte den Titel neu, mit einem ebenso markanten wie einprägsamen Saxofon-Solo, das natürlich auch heute erklingt.

Das Album mit dem Lied verkaufte sich zwei Millionen Mal. Ab 1990 sangen es Maffay und Karat-Frontmann Herbert Dreilich bei gemeinsamen Auftritten. Eine west- und ostdeutsche Wiedervereinigungs-Hymne, musikalisch und politisch. Eine Art Volkslied, das uns alle überleben wird. Am Tag nach Temeswar tritt Karat in Arad auf. Von der damaligen Besetzung ist zurzeit noch Bernd Römer dabei. Im nächsten Jahr werden wir ihn mit seinen Kollegen bei „50 Jahre Karat“ in der Filharmonie Filderstadt erleben.

In Gedenken an den vor zwanzig Jahren verstorbenen Herbert Dreilich gehe ich gedanklich mit Peter Maffay nostalgisch über sieben Brücken. Dabei empfinde ich Nostalgie anders als der ehemalige Stuttgarter Oberbürgermeister Manfred Rommel, der sie als Fähigkeit bezeichnete, „darüber zu trauern, dass es nicht mehr so ist, wie es früher nicht gewesen ist“. Für mich ist es früher so gewesen. Auf YouTube gibt es eine Fassung von elfeinhalb Minuten. So lange dauert „Über sieben Brücken“ heute nicht, wird aber genauso eindringlich, emotional und mit ganz viel Tiefgang dargeboten. Großartig!
Maffays Sohn Yaris wird im Oktober 2024 durch ...
Maffays Sohn Yaris wird im Oktober 2024 durch neun deutsche Städte touren.
17 Lieder singt Maffay solo, zwei im Duo mit US-Star Anastacia („Just You“, die englische Version von „So bist Du“) sowie „Tiefer“ mit Überraschungsgast Hartmut Engler von der Gruppe Pur. Maffays Sohn Yaris, der als Backgroundsänger auf der Bühne steht und im Oktober erstmals auf Tournee gehen wird, performt seinen Song „Abenteuer“. Und Rockröhre Anastacia drei Titel, darunter auf Maffays Wunsch im Duo mit der rumänisch-deutschen Hintergrundsängerin Linda Teodosiu „You Shook Me All Night Long“ von AC/DC. (Anmerkung des Autors: Die australischen Rocklegenden traten am nächsten Tag vor 90.000 Zuschauern auf dem Wasen auf – beim größten Konzert in der Geschichte Stuttgarts.)

In hautenger schwarzer Lederhose, weißer achselfreier Weste, tätowiert, mit Silberkette und Bikerboots sieht Peter Maffay gefühlt wie immer aus. Bei den Balladen klingt seine Stimme sanft und einfühlsam, bei den Rocksongs kraftvoll und ausdrucksstark. „Was für ein fröhlicher, schöner und energiegeladener Abend. Wir fühlen uns großartig“, ruft Peter in die Menge. Und spricht den Zuschauern damit aus der Seele. Der Wasen bebt, pulsiert, vibriert. Live is life! Es wird langsam frischer. Und frisch klingt Peters Stimme. Ich bin mit seinen Liedern aufgewachsen. Ein Jugendfreund nahm Maffays neue Alben in Deutschland auf und brachte mir die Kassetten nach Rumänien mit.

Nach knapp drei Stunden ist das Abschiedskonzert vorbei. Gestern wurde es gegen Ende durch Starkregen beeinträchtigt, heute zum Glück nicht. Kein Wunder: Es war nicht, sondern es ist Sommer! Eine laue Sommernacht, „keine Wolke am Himmel“, wie der Sänger feststellt.

Als letzte Zugabe erklingt wie eine Art Vermächtnis sein neuer Song „Mein Wort“. Darin heißt es: „Ab heute für die Ewigkeit/ War das für immer unsere Zeit/ Auch wenn der letzte Vorhang fällt/ Ich geh‘ noch nicht fort/ Ich geb‘ euch mein Wort.“ Um 22.18 Uhr fährt er mit seiner Harley Davidson von der Bühne. Der Kreis hat sich geschlossen.

Maffay ist klein von Statur, aber musikalisch ein Großer, der mit seinem unverwechselbaren Stil Millionen Menschen begeistert hat. Der finale Vorhang seiner Tourneekarriere ist gefallen. Doch seine Lieder bleiben für die Ewigkeit. Farewell und mach‘s gut, Peter!

Helmut Heimann

Konzert am 4. August in Hermannstadt

Die Tourneebühne hat Peter Maffay für immer verlassen, der Musik bleibt er erhalten. Am 4. August wird er um 20 Uhr beim Großen Sachsentreffen 2024 auf dem Großen Ring in Hermannstadt auftreten. Es ist sein erstes Konzert in seiner Heimat Rumänien, das dank des Engagements und der Finanzierung der M&V Schmidt Stiftung ermöglicht wird, die ein Partner der Veranstaltung ist. Maffay kommt mit einem 40-köpfigen Team, dem auch sein Sohn Yaris angehören wird. Der Eintritt ist frei (siehe auch SbZ Online vom 27. März 2024).

Maffay-Doku im Fernsehen

Zum 75. Geburtstag von Peter Maffay zeigt die ARD eine Dokumentation über den aus Kronstadt stammenden Musiker. Dafür ließ sich Maffay fast ein Jahr lang von Filmemacher Andreas Heineke mit der Kamera begleiten. Gezeigt werden Vorbereitungen von Maffays „Farewell Tour“, private Momente hinter der Bühne, im Studio mit seiner Band oder auf Familienreise in seine Heimat Rumänien. „Es sind berührende, intime und exklusive Einblicke, die nicht nur Fans überraschen werden. Noch nie hat Peter Maffay ein Kamerateam so nah an sich herangelassen“, so der Sender. Die einstündige Doku „maffay.“ wird an Peter Maffays Geburtstag, dem 30. August, um 22.20 Uhr, in der ARD ausgestrahlt.

Schlagwörter: Peter Maffay, Konzert, Stuttgart

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