25. Juli 2024

„Es ist fast keiner mehr“: Siebenbürgisch-deutsche Lyrik-Anthologie von Stefan Sienerth

Im Mai 2024 erschien in der Edition Noack & Block in Berlin: „,Es ist fast keiner mehr‘ – Siebenbürgisch-deutsche Lyrik des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“. Als Herausgeber dieser Anthologie signiert Stefan Sienerth. Der Werbetext des Verlages lautet: „Der Band umfasst 110 deutschsprachige Gedichte siebenbürgischer Autoren von 1700 bis 1848. Sie bilden die ganze Bandbreite siebenbürgisch-deutscher Lyrik in diesem Zeitraum ab: von Schmäh- und Streitgedichten über Hochzeitspoesie und andere Gelegenheitsdichtungen bis hin zur Naturlyrik und zu politischen Liedern. Ein Vorwort über die literaturhistorischen Zusammenhänge, knappe bio-bibliografische Hinweise auf die Verfasser sowie ein Quellenverzeichnis ergänzen die Anthologie. Sie vervollständigt die fünfbändige Reihe Stefan Sienerths zur Geschichte der siebenbürgisch-deutschen Lyrik von ihren Anfängen bis zum Jahr 1944.“
War es ein Erwachen aus der verordneten Lethargie oder ein Neubeginn? Ein ungewöhnliches Buch aus mehreren Hinsichten erschien 1971 im damals noch jungen Dacia-Verlag in Klausenburg. Die Herausgeberin des Bandes, Brigitte Tontsch, schrieb in der Vorbemerkung, dass dieser Band „Interpretationen deutscher und rumäniendeutscher Lyrik“ eine Bemühung sein soll, beim Publikum Verständnis für das lyrische Gedicht zu wecken. Lyrik sei konzentrierte Dichtung; man beobachtete eine „bedauerliche Unfähigkeit vieler Leser, das Wesen einer Dichtung zu erfassen“. Mit den Interpretationen zu ausgewählten Dichtungen wollte man eine erste Hilfestellung leisten, Lyrik leichter zugänglich zu machen. Es war auch eine gute Gelegenheit, rumäniendeutsche Lyrik zu präsentieren. Die Herausgeberin schlug vor, der Band soll als Aufforderung, als eine zukünftige lohnende Aufgabe gelten, rumäniendeutsche Literatur systematisch zu erforschen.

Unter den Autoren, die ihre Interpretationen zur Lyrik in diesem legendären Band vereinen, ist auch der damals 23-jährige Student an der Babeș-Bolyai-Universität Klausenburg, Stefan Sienerth. Die zwei Gedichte von Eduard Schullerus (1877-1914) und Hermann Klöß (1880-1948), die er meisterhaft besprach, waren wohl seine ersten veröffentlichten Texte über siebenbürgisch-deutsche Autoren.

Dr. Stefan Sienerth hat von 1978 bis 1986 vier ...
Dr. Stefan Sienerth hat von 1978 bis 1986 vier Lyrikanthologien im Dacia-Verlag in Klausenburg herausgegeben. Die erste Anthologie, "Wintergrün", erschien 1978.
Als Stefan Sienerth 1975 als Assistent an die Germanistik-Fakultät in Hermannstadt kam, wurde hier erstmals siebenbürgisch-deutsche Literatur unterrichtet. Seiner Leidenschaft für Lyrik blieb er treu; im Dacia-Verlag Klausenburg publizierte er 1978 „Wintergrün – Anthologie siebenbürgisch-deutscher Lyrik aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts“. Ein gut organisierter Plan hat sich wohl bereits in frühen Jahren bei Sienerth herauskristallisiert; er saß an der Quelle und konnte aus den Tiefen schöpfen. Die Brukenthal-Bibliothek mit ihren bibliophilen Schätzen stand dem jungen Forscher zur Verfügung.

Als 1979 die Hermannstädter Germanistik-Fakultät den Band „Die Literatur der Siebenbürger Sachsen in den Jahren 1849-1918“ herausgab, galt Stefan Sienerth als absoluter Spezialist für die siebenbürgisch-deutschen Autoren dieser Periode und war mit acht Beiträgen präsent. In diesem Jahr (1979) erfolgte auch seine Promotion zum Dr. phil. an der Universität Bukarest. Sein Vorhaben, die Texte siebenbürgischer Autoren dem breiten Publikum, aber auch den Spezialisten zugänglich zu machen, verfolgte er konsequent weiter. Diese Texte, die teils verteilt in Zeitungen bzw. Zeitschriften, teils in älteren, unerreichbaren, sogar im Ausland publizierten Büchern erschienen waren, wurden von Sienerth durch seinen unermüdlichen Fleiß ausfindig gemacht und peu à peu publiziert. Der nächste Band, „Wahrheit vom Brot – siebenbürgisch-deutsche Lyrik der Jahrhundertwende“, folgte 1980.

Die Anthologie "Wahrheit von Brot" erschien 1980 ...
Die Anthologie "Wahrheit von Brot" erschien 1980 im Dacia Verlag.
In der Reihe Transsylvanica von Michael Markel 1982 herausgegeben, erscheint Sienerths „Modernistische Ansätze in der Rumäniendeutschen Literatur der Zwischenkriegszeit“, wo „versucht“ wird, so Sienerth, eine Bestandsaufnahme im Hinblick auf eine systematische Darstellung der Literaturtendenzen der frühen zwanziger Jahre vorzunehmen. Gleichzeitig (1982) erscheint „Ausklang – Anthologie siebenbürgisch-deutscher Lyrik der Zwischenkriegszeit“, eine willkommene Ergänzung zu seinen subtilen theoretischen Analysen.

Wenige Jahre danach, 1984, war die Zeit gekommen, um die „Geschichte der siebenbürgisch-deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Ausgang des 16. Jahrhunderts“ ebenfalls im Dacia-Verlag in Klausenburg zu publizieren. Erst 1986 erscheinen die Originaltexte, also „Das Leben ein Meer – Anthologie der Anfänge“, Texte, die er in seiner ersten Literaturgeschichte bereits kommentiert hatte.

So könnte man fortfahren mit den Veröffentlichungen von Stefan Sienerth und sich immer wieder wundern ob der Menge und der Qualität dieser Publikationen. Nun halten wir hier inne, weil sich unser Fokus eigentlich nur auf die Text-Anthologien richten wollte, die Stefan Sienerth zwischen 1978 und 1986 im Klausenburger Dacia-Verlag publiziert hatte. Sie wurden nicht chronologisch veröffentlicht. Ordnet man sie in zeitlicher Folge, fällt auf, dass eine Zeitspanne fehlt. Diese Lücke sollte erst 2024 gefüllt werden.

Die Lyrikanthologie "Ausklang" gab Stefan ...
Die Lyrikanthologie "Ausklang" gab Stefan Sienerth 1982 im Dacia Verlag heraus.
Bücher haben ihr Schicksal; Manuskripte bzw. Typoskripte, also nicht veröffentlichte Bücher, wohl auch. In der Vorbemerkung zu seiner 2024 erschienenen Anthologie „Es ist fast keiner mehr“ erzählt Stefan Sienerth das Schicksal seines Buches, das bereits im Sommer 1990, kurz vor seiner Ausreise in die Bundesrepublik fertiggestellt war. Er hatte das Typoskript dem Freund und langjährigen Lektor (Redakteur) des Dacia-Verlages, Franz Hodjak, zwecks Publikation übergeben. Nun, die Zeiten änderten sich damals, Mitte des Jahres 1990, rasend schnell. Dem Verlag, der seit 1970 kontinuierlich und mit großem Erfolg die Leserschaft Rumäniens mit deutschsprachigen Büchern belieferte, wurde die staatliche Förderung entzogen und aufgelöst. Franz Hodjak verließ ebenfalls Rumänien.

Erst 2024, so Sienerth, geriet ein Duplikat des Typoskriptes in sein Blickfeld und weckte den Wunsch, es herauszugeben. So erschien im Berliner Verlag Noack & Block: „Es ist fast keiner mehr“. Somit ergänzt dieses letzte Mosaiksteinchen das Bild der lyrischen Texte, die in Anthologien von Stefan Sienerth herausgegeben wurden. Es sind insgesamt fünf Bände, die das lyrische Schaffen als Teil der siebenbürgisch-deutschen Literatur von den Anfängen bis 1944 abdecken.

In diesem gigantischen Anthologie-Werk sind rund 140 namentlich bekannte Autoren mit fast 630 eigenständigen lyrischen Texten vertreten. Sienerth schreibt in seiner Vorbemerkung, rückblickend als Fazit, es seien darunter auch eine ganze Anzahl Gelegenheitsreimer. Dazu könnte man Johann Wolfgang Goethe zitieren, der gegenüber Johann Peter Eckermann gesagt hat: „Alle meine Gedichte sind Gelegenheitsgedichte, sie sind durch die Wirklichkeit angeregt und haben darin Grund und Boden. Von den Gedichten, aus der Luft gegriffen, halte ich nichts.“

Die Titel der Anthologien sind kurz und wohldurchdacht gewählt, sind sie doch Splitter aus den Versen der Autoren, so z.B. Wahrheit vom Brot (Johann Schuster-Herineanu), Wintergrün (Viktor Kästner) oder Das Leben ein Meer (Johann Zabanius Sachs von Harteneck). Für seine letzte Anthologie wählte Sienerth als Titel die Worte eines anonymen Dichters: „Es ist fast keiner mehr“. Wurde dieser Titel, der doppeldeutig, doppelsinnig am Anfang des 21. Jahrhunderts gelesen werden kann, bewusst gewählt? Wir wissen es nicht!

Die Anthologie "Das Leben ein Meer" erschien 1986 ...
Die Anthologie "Das Leben ein Meer" erschien 1986 im Dacia Verlag in Klausenburg.
Eindeutig klingen, ohne aus dem Kontext gerissen zu werden, die ersten zwei Zeilen des Gedichtes: „Es ist fast keiner mehr, der nur nach Tugend freit, / Und auch Lukretien sind eine Seltenheit.“ Fällt es jetzt schon auf, dass es ein Hochzeitsgedicht wohl aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist? An die Adresse der Heiratswilligen werden gleich zwei Vorwürfe ausgesprochen: Der Mann, der seine Frau nicht mehr ausschließlich nach ihrer Tugend auswählt und die Seltenheit der Lukretien, d.h. der tugendhaften Frauen, denn die antike Lukretia steht für Schönheit und noch mehr für ihre Tugendhaftigkeit. Am Ende dieser Hochzeits-Carmina, nachdem die Musen, ob Thalia oder Klio, nicht helfen konnten, fährt der anonyme Dichter „schlecht und recht“ mit seinen Wünschen für das junge Paar fort.

In dieser letzten Anthologie begegnen der Leserschaft teils bekannte Namen wie Josef Marlin (1824-1849) oder Leopold Maximilian Moltke (1819-1894), der Autor des „Siebenbürger Volkslied(es)“, das, nachdem es von Johann Lukas Hedwig (1802-1849) vertont wurde, zur Volkshymne werden sollte (Sienerth). Aber auch andere weniger bekannte Dichter wie Johann Samuel Kessler (1771-1796) und seine Schwester Susanna Katharina Kessler (1767-1831), Daniel Filtsch (1730-1793) oder Johann Seivert (1735-1785), um nur einige Namen zu nennen, sind ein großer Genuss beim Lesen. Die dazu gehörigen informationsreichen bio-bibliografischen Angaben befinden sich, wie in allen vorherigen Bänden, gesammelt am Ende des Buches.

Stefan Sienerth hat sich bereits in jungen Jahren die hohe Aufgabe gestellt, die siebenbürgisch-deutschen lyrischen Äußerungen, wenn nicht in der Gesamtheit, denn das wäre nicht möglich gewesen, doch in einer großen beispielhaften Anzahl zu erfassen und in Anthologien herauszugeben. Darüber hinaus deutete Sienerth in seinen kenntnisreichen Vorwörtern zu den Anthologien die unterschiedlichsten Perioden der Literatur, so dass die Leserschaft ein tatsächliches Mosaikbild, bunt und facettenreich, über die Jahrhunderte hinweg, bekommen hat.

So wie im 19. Jahrhundert Friedrich Müller (1828-1915) die Sagen Siebenbürgens, Friedrich Wilhelm Schuster (1824-1914) Siebenbürgisch-sächsische Volkslieder, Sprichwörter, Rätsel, Zauberformeln und Kinder-Dichtungen, Josef Haltrich (1822-1886) wiederum die unvergleichlichen Märchen gesammelt, aufgeschrieben und publiziert haben, so gesellt sich auf einer anderen Ebene, in einem anderen Jahrhundert, ein moderner Sammler, Deuter und Herausgeber hinzu: Stefan Sienerth.

Die entstandene Lücke in den Publikationen der Siebenbürger Sachsen hat Stefan Sienerth durch seine unermüdliche Suche und seine Wissbegierde entdeckt und durch ein lebenslanges Forschen und Sammeln gefüllt. Durch diese letzte Publikation im Jahre 2024 wurde das Bild der siebenbürgisch-deutschen Lyrik vervollständigt und dem europäischen Publikum als Geschenk dargeboten.

Josef Balazs

Stefan Sienerth (Hg.): „Es ist fast keiner mehr – Siebenbürgisch-deutsche Lyrik des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“. Edition Noack & Block, Berlin, 2024, 268 Seiten, Buch: ISBN 978-3-86813-198-7, EUR 20,00, E-Book: ISBN 978-3-86813-883-2, EUR 12,00

Schlagwörter: Rezension, Lyrik, Anthologie, Literatur, Stefan Sienerth

Bewerten:

9 Bewertungen: +

Noch keine Kommmentare zum Artikel.

Zum Kommentieren loggen Sie sich bitte in dem LogIn-Feld oben ein oder registrieren Sie sich. Die Kommentarfunktion ist nur für registrierte Premiumbenutzer (Verbandsmitglieder) freigeschaltet.