20. Juni 2024

Dana Grigorcea schreibt sich in Köpfe, Räume, Zeiten

Dana Grigorceas neues Buch ist ein Roman über das Verhältnis zwischen Kunst und Leben mit zwei wunderbaren Settings: New York in den 1920er Jahren und die Küste Liguriens in der Gegenwart. Dort ist Mai, hier ist Februar, dort steht ein Bildhauer im Mittelpunkt, hier eine Schriftstellerin. Knapp 100 Jahre und ein Ozean trennen sie, aber ihre Geschichten, vielmehr ihre Leben sind über Räume und Zeiten miteinander verbunden, denn sie schreibt über ihn und ermittelt dabei unter anderem „Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen“.
Ein verbrieftes Erlebnis des rumänisch-französischen Bildhauers und Fotografen Constantin Brâncuşi, der seine Skulptur „Pasărea în văzduh“ (L’Oiseau dans l’espace/Vogel im Raum) 1926 nicht zollfrei nach Amerika einführen durfte, obwohl das allgemein für Kunst galt, und darüber einen Prozess anstrengte, inspirierte die rumänisch-schweizerische Autorin Dana Grigorcea zu einem Roman über „Constantin Avis“, wie sie ihre Hauptfigur nennt. Die zweite Hauptfigur Dora Marcu ist Schriftstellerin und schreibt in der Romangegenwart an einem Buch über Constantin Avis „und seine berühmte Vogelstatuette, die er in Amerika nicht zollfrei über die Grenze führen durfte“. Dank eines Stipendiums kann sie mit Sohn Loris und dem eigens eingestellten Kindermädchen Macedonia in ein luxuriöses Hotel an der ligurischen Küste reisen, wo sie sich ganz dem Schreiben widmet. „Das Schreiben ging ihr leicht von der Hand. Wörter flogen ihr zu, Sätze, Rhythmen. Sie schrieb sich in einen Rausch – ein schneller Tanz […]“

Als schneller Tanz lässt sich auch Grigorceas Roman bezeichnen, denn Constantins und Doras parallel erzählte Geschichten sind so voller Musik, dass sich eine Playlist erstellen ließe, die man während des Lesens hören und zugleich mindestens mit den Füßen wippen könnte. Aber nicht nur Musik verbindet die beiden Erzählstränge. Um die Parallelen zwischen ihnen deutlicher zu machen, flicht Grigorcea Gegenstände oder Begebenheiten ein, die in beiden Zeitebenen trotz unterschiedlicher Funktion mit dem exakt gleichen Wortlaut beschrieben werden: ein weißes Hütchen; im Wind flatternde gelbe Vorhänge; ein glatter, grauer Stein mit hellen Äderchen; ein Benzinfleck; eine Katze. Dann stellt sich beim Lesen „ein irritierendes Gefühl von Déjà-vu“ ein, wie es die Autorin auch ihre Figur Dora im letzten Drittel des Buches erleben lässt.

Über allem aber steht verbindend die Frage „Was ist Kunst?“. Der Bildhauer Constantin denkt darüber ebenso nach („Er hörte sich von seinem Vogel erzählen und […] mit welcher Eitelkeit er an sein Kunstwerk geglaubt und es hierhergebracht habe, und wie er dann den Vogel hatte verzollen müssen, als Gebrauchsgegenstand, weil der Zollbeamte das Kunstwerk nicht als Vogel anerkannte.“) wie die Schriftstellerin Dora („Manchmal, wenn sie schrieb, war sie gereizt anstatt glücklich, wie sie es sein sollte. Aber wozu dann noch Kunst?“).

Sie habe eine Geschichte erzählen wollen, die exemplarisch für das Schöpfen stehe, bekannte Dana Grigorcea in der ARD-Sendung „lesenswert“ mit Denis Scheck. Das ist ihr mit den unterschiedlichen Perspektiven von Constantin und Dora, einem Mann und einer Frau, einem bildenden Künstler und einer Schriftstellerin zu Beginn des 20. bzw. 21. Jahrhunderts, gelungen. Damit verbunden ist der Blick auf ungebundene, arbeitende Männer damals und berufstätige Mütter heute. Man kommt nicht umhin, in der Figur der Dora Parallelen zur Autorin zu vermuten: Auch Dana Grigorcea ist Mutter und Schriftstellerin, und ganz sicher sind ihre Erfahrungen aus dieser (mindestens) Doppelrolle in die Figur eingeflossen, aber natürlich steht die fiktive Schreiberin für sich und ihre Fragen: „Wozu Kunst? Inwiefern speist sich die Kunst aus dem Leben – und was gibt die Kunst dem Leben zurück?“ und auch für das Dilemma vieler Mütter: Bin ich zu wenig für mein Kind da, weil ich arbeite? Macht mich die professionelle Betreuung meines Kindes durch jemand anderen, damit ich arbeiten kann, zu einer schlechten Mutter? Bin ich gar abwesend, „assente“, wie es Dora im Roman vorgeworfen wird? (Und das von einer Frau, die selbst in der Mitte des 20. Jahrhunderts im konservativen Sizilien ein relativ ungebundenes Leben geführt, sich den Ehemann selbst ausgesucht und sich bewusst gegen Kinder entschieden hat!)

Nun ja. Alle berufstätigen Mütter mögen sich an folgendem Satz aus dem vorliegenden Roman festhalten – obwohl ihn die männliche Hauptfigur spricht: „Keine Arbeit ist anrüchig […], in allem liegt Kunst.“ Und sie mögen – ebenso wie alle anderen – dieses Buch lesen, das so gehaltvoll ist und doch leicht wie ein Vogel beim Fliegen daherkommt.

Doris Roth



Dana Grigorcea: „Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen“. Penguin Verlag, München, 2024, 224 Seiten, 24 Euro, ISBN 978-3-328-60154-8.

Schlagwörter: Literatur, Grigorcea, Autorin, Roman

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