19. Juni 2024

Von den Zeitereignissen zurechtgeformt: Interview mit Joachim Wittstock, dem „Heimweltautor“

Ende April kam das neue Buch „Das erfuhr ich unter Menschen“, eine romanhafte Chronik, von Joachim Wittstock heraus, das er bei den Deutschen Literaturtagen am 29. April in Reschitza vorstellte. Anlass genug, um mit dem 1939 in Hermannstadt geborenen Autor ein Interview zu führen. Joachim Wittstock hat über zwanzig Bücher veröffentlicht, Gedichte, aber vor allem Prosa, außerdem etliche literaturwissenschaftliche Werke. Zudem übersetzte er aus dem Rumänischen und sogar aus dem Siebenbürgisch-Sächsischen und gab die Schriften seines Vaters, des bekannten Romanciers Erwin Wittstock, heraus. Vor allem interessierte ihn jedoch „die Übertragung von Seinsumständen und Lebensvorgängen in Sprache“, wie er es selbst formulierte. Das folgende Gespräch führte Edith Ottschofski.
Sie haben in diesem Jahr bei den Literaturtagen in Reschitza Ihr druckfrisches Buch vorgestellt, die romanhafte Chronik siebenbürgischer Schicksale: „Das erfuhr ich unter Menschen“, erschienen im Schiller Verlag, Bonn-Hermannstadt. Warum haben Sie sich für den „chronikalischen Realismus” entschieden, um Ihre Formulierung zu benutzen?

Will man literarische Phantastereien vermeiden, falsche Gewichtungen in der Komposition und Einzelepisode, will man albernen Verzerrungen und gewagten Erfindungen aus dem Weg gehen – wie man sie aus der Lektüre kennt und auch im Rückblick auf eigene Missgriffe beklagt –, tut man gut, sich auf die Schilderung von tatsächlich Geschehenem einzustellen sowie aufs Porträtieren von Personen, denen man begegnet ist oder die man hat treffen können. Ein Abstand zwischen dem chronikalisch hundertprozentig Verbürgten und dem literarisch angelegten Vorstellungsbild bleibt dennoch erhalten, wie sehr man sich als Berichterstatter, als Erzähler auch auf Dokumentationsmaterial stützen mag, und die Zugehörigkeit zur Belletristik wird dadurch einigermaßen gesichert.

Sie haben unter anderem als Bibliothekar gearbeitet und waren bis 1999 als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Forschungszentrums für Gesellschaftswissenschaften in Hermannstadt im Bereich Literaturwissenschaft tätig. Kommt daher Ihre Liebe zum Dokumentarischen?

Vermutlich. Vor meiner Zeit als Angestellter eines Betriebs, in dem Abhandlungen verfasst und gelehrte Kompendien gewälzt wurden, fühlte ich mich von Essays angezogen, also von Fußnoten-freien Schriften mit ihren vielen Gedankenverbindungen, und war von glanzvoller Rhetorik beeindruckt, nicht von einer ängstlich um Belege bemühten Redeweise. Das änderte sich nach und nach und verschob sich in Richtung Authentizität und Genauigkeit (ja Pedanterie, wie ich manchmal zu hören bekomme).

Der Titel des Buches stammt aus dem „Wessobrunner Gebet“? Wie kam es zu diesem Titel?

„Das erfuhr ich unter Menschen“ ist die Eingangsformel eines Textes von insgesamt 15 Versen, dessen Überlieferung mit dem bayrischen Kloster Wessobrunn verbunden ist. Einem kosmologischen Ansatz folgt ein Gebet und ergibt trotz Bruchstückhaftigkeit ein überaus wichtiges Sprachdenkmal des Althochdeutschen, aufgezeichnet um das Jahr 800. Unsereiner lebt auch von den kulturellen Hauptbeständen der Vergangenheit und sieht sich daher hineingenommen in den Echoraum, der sich zwischen der Niederschrift des uralten Textes und der Gegenwart ergibt, in diese rund 1200 Jahre umfassende Zeitspanne. Es ist, als erklängen, wie dazumal in den Klöstern, Gregorianische Gesänge.
Joachim Wittstock in seinem Arbeitszimmer am 2. ...
Joachim Wittstock in seinem Arbeitszimmer am 2. Mai 2024 Hermannstadt. Foto: Louise Ottschofski
Können Sie kurz umreißen, wovon Ihr Buch handelt?

Zeitlich reicht die „Chronik“ natürlich nicht so weit zurück wie das Zitat aus dem Gebettext. Sie ist vielmehr auf das 20. Jahrhundert eingestellt, und der Handlungsrahmen führt gar in die Jüngstvergangenheit. Berichtet wird von einem Sanatorium in Kronstadt und von der wechselnden Bestimmung des Gebäudes, von seinem Ausbau und der mehrfachen Zweckentfremdung. Klinisches kommt zur Sprache, doch auch reichlich von dem gesellschaftlichen und politischen Geschehen um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Und das anhand von Lebensläufen, die von den Zeitereignissen zurechtgeformt wurden.

Was war Ihr Impetus, diese romaneske Chronik zu schreiben? Man braucht ja dafür viel Langmut, wie Sie es ausführen.

Geduld ist tatsächlich erforderlich, wenn man eine umfassendere Komposition zu Ende bringen will. Auch an einer gewissen Zähigkeit durfte es in meinem Fall nicht fehlen, an langem Atem, da ältere Entwürfe und allerhand Vorarbeiten mit neueren Schilderungen verbunden und aufeinander abgestimmt werden mussten. Erste Anstöße zur Niederschrift rühren – man glaubt es kaum – aus den 1960er Jahren, anderes kam im Lauf der Jahre hinzu. Doch fehlte es mir an einem tragfähigen Gerüst, um die Materie gliedern und bändigen zu können. Ein Rahmengeschehen, welches das Auseinanderfließen der Episoden verhindern sollte, bot sich mir schließlich im Schicksal des Sanatoriums an, in den es betreffenden Vorgängen in den letzten Etappen seines altgewohnten Erscheinungsbilds.

Ihr Schreiben ist filigran, wie ich es einmal bezeichnet habe, also vor allem präzise und gleichzeitig zurückhaltend, Sie verwenden eine ausgefeilte, leicht versonnene Sprache, mit Wörtern wie: „redlich, Diebereien, unbescholten, lediglich, Offiziersaspirant“? Würden Sie sagen, dass diese Wörter „siebenbürgisch deutsch“ sind, oder was macht das Siebenbürgische Deutsch aus?

Was Sie an Worten aufzählen, ist gesamtdeutsches Sprachgut. Es wirkt vielleicht etwas veraltet, ist es aber nicht. Denn die Literatursprache ist ein Riesenspeicher, der selbstverständlich auch manches von den Altbeständen des Deutschen enthält und zur Nutzung anbietet, selbst wenn manches Wort, manche Fügung vorgestrig anmuten. Deshalb lese ich auch gerne in Arbeiten jener Autoren, die von dem ungewöhnlichen Reichtum an Wendungen, an Sinndeutungen und Ausdrucksmöglichkeiten der deutschen Sprache zehren, unbeirrt von Korrekturvorschlägen jener Zeitgenossen, die nur Heutiges, Letztminütliches gelten lassen. Das Siebenbürger Deutsch mit seinen Eigenheiten ist nicht meine ureigene Domäne – andere Autoren haben es besser zur Geltung bringen können, dieses Idiom mit altösterreichischen oder böhmischen Einschlägen, zudem mit rumänischen und magyarischen Einflüssen und mundartlichen Zutaten.

Sie stammen ja aus einer Literatenfamilie, in diesem Jahr sind es 125 Jahre seit der Geburt Ihres Vaters, Erwin Wittstock. Hat er sie an die Literatur herangeführt? Oder wie kamen Sie eigentlich zum Schreiben?

Was mein Vater von uns Kindern vor allem wünschte, war, dass wir uns dereinst im Berufsleben bewähren. Literarische oder künstlerische Neigungen sollten, soweit vorhanden, gepflegt, doch nicht um den Preis einer einigermaßen gesicherten Existenz verabsolutiert werden. Wir lebten schließlich nicht in einer Künstlerkolonie, sondern in einer Gesellschaft mit nicht ganz leicht zu meisterndem Alltag. Soweit etwas vom Grundsätzlichen in Familie und Gemeinschaft. Was nun aber mich als Schreibender betrifft: Als junger Mensch war ich zu befangen und auch zu selbstkritisch, um jemandem – wer immer es sei – literarische Entwürfe zu zeigen. Ich hätte auch lediglich vage formulierte Verse oder Aufzeichnungen aller Art vorweisen können, deren mangelde Genauigkeit mich nicht befriedigte. Ich war deshalb auch mehr ein aufnehmender Hausgenosse. Daheim wurde viel über Dichtung gesprochen, und ich konnte anhand der literarischen Bemühungen des Vaters das Schriftstellerdasein nicht nur beobachten, sondern zunehmend auch inneren Anteil nehmen an Höhen und Tiefen einer auf Sprachkunst gegründeten Existenz. Ich erlebte mit, was es hieß, als Schaffender gefördert oder regelrecht gehemmt zu werden, und war aus der Nähe beteiligt am Werden oder auch an der Preisgabe dichterischer Vorhaben.

Als Literaturhistoriker haben Sie eine monografische Studie über Ihren Vater verfasst und seine Werke herausgegeben. Sie erwähnten im Vorgespräch, dass bald eine ausführliche Bio-Bibliografie zu Ihrem Vater erscheinen wird. Können Sie dazu etwas Näheres erzählen?

Von einem vor anderthalb Jahrhunderten angelegten Nachschlagewerk, dem „Schriftsteller-Lexikon der Siebenbürger Deutschen“, sind in neuerer Zeit mehrere Bände einer wesentlich ergänzten Fassung erschienen, dank der Bemühungen der Bibliografen Hienz Vater und Sohn. Harald Roth bearbeitet gegenwärtig als Herausgeber den Schlussband, in dem auch Erwin Wittstock vertreten sein wird. Der ihm gewidmete, sehr viele Seiten umfassende Eintrag listet die verschiedensten Informationen, Meinungen und Wertungen auf.

Im „Jüngsten Gericht von Altbirk“ nimmt Erwin Wittstock die Sachsen aus dem Dorf Altbirk auf die Schippe, und gleichzeitig wohnt dem Thema auch eine Tragik inne. Wie sehen Sie das?

Das haben Sie richtig erfasst: Gutmütiger Humor geht bisweilen in weniger nachsichtigen Spott über, aber die Grundstimmung ist ernst und birgt, im Blick auf die Gemeinde und die sächsische Bevölkerung allgemein, auch tragische Momente. Das haben dazumal Wittstocks Landsleute erkannt, und auch Fernerstehende nahmen Anteil an dem geschilderten Geschehen und seiner Gedankenwelt (es gab Nachauflagen – u.a. für die DDR – sowie Übersetzungen ins Rumänische, Ungarische und Französische).

Sie sind ja ein Dagebliebener. Mussten Sie sich deswegen rechtfertigen?

Selbstverständlich musste man sich rechtfertigen, mit einem gewissen Aufwand an Argumenten oder auch nur in Andeutungen. Die Davongegangenen wurden aber ebenfalls dazu genötigt, ihren Abgang zu erklären. Solches gehörte zu den häufigsten Gesprächsthemen einer nun weiter zurückliegenden Zeit. Aus der Rückschau stellt sich die Erörterung des Themas als ein Gemenge dar, in das hineingemischt ­waren Schicksalsergebenheit, Freiheitsdrang, Heimatmüdigkeit, Risikobereitschaft, Anspruchsdenken, Selbsttäuschung und anderes mehr.

Was bedeutet Heimat für Sie? Können Sie mit dem Begriff etwas anfangen?

Im Grunde bin ich ein Heimatschriftsteller – was denn sonst? Das Wort klingt nicht in allen Ohren gut, und deshalb habe ich manchmal die Bezeichnung „Heimweltautor“ verwendet – die „Heim-Welt“ vereinbart das Nahe mit dem Weiten. Auch als „Regionalist“ lässt sich ein der Heimat verbundener Autor benennen (man spielt eben in der „Regionalliga“ und vertritt mit sportlichem Ehrgeiz die Weltgegend, in der man lebt, die eigene Ortschaft, die heimische Talsenke und Fluss-Au).

Was für Pläne haben Sie nach der romanhaften Chronik?

Gerne möchte ich eine Auswahl eigener Gedichte herausbringen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Joachim Wittstock: „Das erfuhr ich unter Menschen“. Romanhafte Chronik siebenbürgischer Schicksale. Schiller Verlag, Bonn-Hermannstadt, 2024, 604 Seiten, 17,90 Euro, ISBN 978-3-949583-51-3

Schlagwörter: Literatur, Wittstock, Roman, Autor, Hermannstadt

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