27. August 2021
Arbeitsethos im multiethnischen Kronstadt der frühen kommunistischen Jahre
Mitte der fünfziger Jahre ist das neue kommunistische Rumänien unter sowjetischer Kontrolle politisch gefestigt, aber Umbau und Umerziehung der Gesellschaft gehen mühsam voran. Der Parteiapparat, der alles lenken soll, ist ein bunter Haufen von Idealisten, Möchtegernkarrieristen, kleinen Leuten, die’s den Alten endlich zeigen wollen, und Menschen, die von einem schönen Leben mit wenig Arbeit träumen. Es gibt noch keine Kaderschulen und die Säuberung von enttäuschten Sozialdemokraten ist noch im Gange. Die Legionäre sind untergetaucht.
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Das schon vorher industriell leistungsstarke Kronstadt wird mit dem ersten Fünfjahresplan zu einer Metropolregion aufgewertet. Der Bedarf an technischen Fachkräften vervielfacht sich. Aus entfernten Regionen strömen Arbeitssuchende nach Kronstadt, das als „Stalinstadt“ einen Sonderstatus erhält. Drei Viertel der Arbeitenden sind zugewandert. Alles ist jetzt anders: Planwirtschaft, Einmischung des Parteiapparates, neue Mentalitäten anderer Regionen und ein buntes Gemisch von Völkerschaften und Lebensläufen.
Und es gibt gesellschaftliche Strukturen aus dem alten Kronstadt, die – im Schatten – weiterhin eine Rolle spielen. Allen voran die Eforie. Der Gründungsbeirat des Șaguna-Lyzeums ist schon lange das einflussreiche Zentrum der rumänischen Intellektualität. Das jährliche Treffen ehemaliger Șagunisten aller Jahrgänge ist eine verschworene Bruderschaft. Die mehrsprachigen Juden sind bei ihren beiden Synagogen gut aufgehoben. Magyaren und Szèkler scharen sich um die ehemalige Zeitung Brassói Lapok und um das katholische Schulzentrum in der Klostergasse. Das Deutsche Ensemble und die Volkszeitung versuchen sich um die Kronstädter Sachsen zu kümmern, was wegen Evakuierung und Schauprozessen fast unmöglich ist.
Wie funktioniert das Miteinander am Arbeitsplatz in dieser vielschichtig verzerrten neuen Welt? Das soll am Beispiel des Lastkraftwagenwerkes von Kronstadt beleuchtet werden.
Die Waggonfabrik ASTRA war 1948 verstaatlicht und in „Steagul Roșu“ umbenannt worden. Sie soll nach Beendigung der Kriegsaufträge den sowjetischen Lastkraftwagen ZIL-150 in Lizenz bauen, ein Nachbau des robusten Studebaker, den die USA ihrem Weltkriegsverbündeten als Waffenhilfe zur Produktion überlassen hatten. Der Umstieg vom Waggon- zum Lkw-Bau erfordert völlig neue Strukturen. Es wird massiv um- und neugebaut. Das Bauunternehmen Trustul de construcții Nr. 5 ist für alles verantwortlich, dessen Chef ein älterer deutscher Doktoringenieur ist. Zwischen den politischen Machern von „Steagul Roșu“ und dem Trust gibt es immer wieder Krach, weil der Deutsche nur schriftliche Änderungswünsche akzeptiert. Da hilft auch politischer Druck nichts.
Bald kommt zum ZIL eine eigene Baureihe mit V8-Motoren hinzu. Der gesamte Bedarf an Bearbeitungsaggregaten für die zahlreichen neuen Fertigungsbänder muss aus Devisenknappheit selbst entworfen und gebaut werden, keine leichte Aufgabe. Auch sie verschlingt eine Menge Ingenieurswissen. In kurzer Zeit werden drei Gießereien und ein Berufsschulzentrum aus dem Boden gestampft, die Produktion von Kugellagern wird abgegeben. Das Ingenieurpersonal steigt in die Hunderte. Die Kommunikation wird immer anspruchsvoller. Lieferketten, Kooperationen, Materialversorgung, Engpässe, Termine usw. sind laufend abzustimmen. Der Parteiapparat schwächelt und wechselt ständig. Schafft der bunte Haufen diese Herausforderungen? Die Bonzen poltern und drohen am liebsten über das Werkstelefon. Bei Sitzungen sind Wortmeldungen unerwünscht. Die neue Ansprache „Genosse“ gibt es nur in Schriftform oder von Parteifunktionären. Eine verlässliche Kommunikation ist nur über persönliche Gespräche möglich. Am besten bei einem gemeinsamen Kantinengang, falls es wichtig ist.
Wenn Sachsen, Ungarn und Juden sich begegnen, ist die Umgangssprache meist nicht Rumänisch, was sofort eine gewisse Nähe schafft. Viele Juden sind in Führungspositionen, sie gelten als politisch unbescholten und nehmen ihre Parteimitgliedschaft im persönlichen Gespräch nicht ernst. Auf ihre Zusagen ist Verlass, sie knicken auch vor dem Parteiapparat nicht ein. Die ungarischen Kollegen sind bei Vereinbarungen vorsichtiger und geben schon mal politischem Druck nach, im Umgang mit Sachsen geben sie zu erkennen, dass auch sie zu einer unerwünschten Minderheit gehören. Die Sachsen sind am wenigsten risikofreudig und scheuen die große Bühne. Noch ist die Familienzusammenführung kein Thema und Geschenke aus dem Westen (Taschenrechner, Nylonhemden, Zeitschriften) lässt man am besten zuhause.
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Fertigungstechnik, Werksbibliothek, Laboratorien, das Amt für Neuerungen und Erfindungen sind die Domäne der Sachsen. Unter ihnen finden sich fast keine Parteimitglieder. Sie werden auch nicht dazu gedrängt, wohl weil bekannt ist, dass sie außer dem sozialistischen Vaterland auch ein Mutterland im Westen haben. Einige Sachsen mit Nazivergangenheit mussten nach dem Weltkrieg untertauchen, dazu gehörte die Romanisierung ihres Namens. Es sind auch im Vieraugengespräch die einzigen Sachsen, die nicht bereit sind, mit Kollegen Deutsch zu sprechen.
Unter den Parteikadern gibt es neben Karrieristen und Privilegienjägern auch lernwillige interessierte Leute. Sie wirken im Zwiegespräch wesentlich zutraulicher, als in der Öffentlichkeit. Da kommt schon mal die Bitte an den sächsischen Kollegen – bei seinen Fremdsprachenkenntnissen – sich mal in der internationalen Fachliteratur kundig zu machen, wie das eine oder andere Problem zu lösen sei.
![Kein Brot ohne Brotmarken ...](/bild/artikel/normal/2021/arbeitsethos_kronstadt_zuteilscheine_fuer_brot_2021.jpg)
Die Wohnungs- und Lebensmittelknappheit ist bedrückend, aber allgemein. Zum Glück weiß man nicht, was bei Bonzen so auf den Tisch kommt. Das Verfassen der immer wieder geforderten Autobiographie wird zum Balanceakt: Was kann drinstehen, was darf nicht hinein. Aber das Betriebsklima ist bei den damaligen Jungingenieuren durchaus optimistisch. Beruflicher Erfolg – auch wenn er kaum belohnt wird – macht Spaß. Vielleicht wird es ja wirklich bald besser.
Götz Conradt
Schlagwörter: Kronstadt, Geschichte, Kommunismus, Bildung, Industrie, Politik, Gesellschaft
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