15. Mai 2024

Äußerlich nichts aus Gold – inhaltlich Goldes Wert: 800 Jahre „Privilegium Andreanum“, des „Goldenen Freibriefs“ der Siebenbürger Sachsen

Im Dezember 1224 ließ König Andreas II. von Ungarn eine Urkunde anfertigen, die auf Pergament mit brauner Tinte geschrieben und mit einem Wachssiegel beglaubigt wurde. Gold findet man unter ihren äußeren Merkmalen nicht, wohl aber ist ihr Inhalt für die Siebenbürger Sachsen von unschätzbarem Wert. Das hatte der große Göttinger Gelehrte August Ludwig von Schlözer bereits 1797 erkannt, der die Urkunde als ein den Sachsen „heiliges, goldnes Privilegium“ bezeichnet hat, denn sie hätten „diesem alten Pergament ihr ganzes politisches Daseyn, und ihr ganzes ökonomisches Wolseyn, zu danken“. Nach 800 Jahren sind die Vorgaben des „Privilegium Andreanum“ schon lange nicht mehr in Kraft, sie wirken allerdings bis heute nach.

Das Doppelsiegel von Andreas II. auf weißem Wachs

Für manche Leserinnen und Leser mag es enttäuschend sein, dass nichts am „Andreanum“ aus Gold besteht. Manchen schwebte und schwebt die „Goldene Bulle“ desselben Ausstellers von 1222 vor, die tatsächlich mit einem Siegel aus Gold („bulla aurea“) versehen war, was man sich auch für das eigene Privileg gewünscht haben mag. In der Beglaubigungsformel (corroboratio) am Ende des „Andreanums“ kann man aber ganz deutlich lesen, der König habe „dieses Blatt mit dem Schutz Unseres doppelten Siegels bekräftigt“ (diese und weitere Übersetzungen aus dem lateinischen „Andreanum“ zitiert aus den von Ernst Wagner herausgegebenen „Quellen zur Geschichte der Siebenbürger Sachsen“). Ein Doppelsiegel (sigillum duplex) hatte Andreas II. ab 1213 verwendet. Es zeigte auf der Vorderseite den thronenden König mit Szepter und Reichsapfel, den Insignien seiner Macht (siehe Abbildung unten).
Abb. 1: Bruchstück eines Doppelsiegels Andreas‘ ...
Abb. 1: Bruchstück eines Doppelsiegels Andreas‘ II. von 1214. Quelle: Ádám Novák: II. András pecsétjei [Die Siegel von Andreas II.]. In: Pilisi gótika. Debrecen 2016, S. 47)
Wenngleich das Original des „Andreanums“ leider nicht mehr erhalten ist – die erste Beglaubigung verdanken wir Karl I. Robert von Anjou, es folgten wenigstens 21 weitere Bestätigungen durch ungarische Könige, siebenbürgische Fürsten und so genannte „glaubwürdige Orte“ –, lässt dessen Beglaubigungsformel keinen Zweifel darüber zu, dass es mit einem Doppelsiegel aus Wachs versehen worden ist, nicht mit einer Goldbulle, was der Aussteller gewiss vermerkt hätte. Darin stimmen alle einschlägig befassten Siegelkundler und Mediävisten überein: Es ist nicht „mehr als unwahrscheinlich“, sondern ausgeschlossen, dass das „Andreanum“ mit einer Goldbulle bekräftigt worden sei.

Bedeutung des „Andreanums“ bis heute

Es enthält zum einen die bislang zuverlässigsten Informationen über die Zeit der Ansiedlung der Siebenbürger Sachsen, nämlich, dass ihnen „ihre Freiheit, mit der sie von Unserem Großvater, dem allergnädigsten König Geisa, geworben worden sind“ bestätigt werde. Daraus sind die Zeit und die Umstände dieser südostdeutschen Siedlungsbewegung ersichtlich: Die Sachsen wurden von König Geisa/Géza II. (der zwischen 1141 und 1162 regierte) geworben, ins Land gerufen („vocati fuerant“ lautet die lateinische Formulierung). Wann genau, ist nicht sicher, irgendwann wurde entschieden, den Beginn ihrer Ansiedlung auf das Jahr 1141 festzulegen. Anlässlich der 850-Jahrfeier in der Frankfurter Paulskirche im Jahr 1991 überraschte der Festredner, der renommierte Tübinger Mediävist Prof. Harald Zimmermann, seine Zuhörerschaft mit der provozierenden einleitenden Aussage: „Vielleicht feiern wir falsch, in falscher Art, zur falschen Zeit, am falschen Ort, vielleicht!“ Doch räumte er ein, das Datum sei nicht so falsch gewählt, denn in Frage kämen für die Ansiedlung während der Regierungszeit Geisas II. nur die Jahre 1141, 1147 oder 1158, was er auch ausführlich begründet hat (Siebenbürgische Zeitung, Folge 18 vom 15. November 1991, S. 5-6).

Zum anderen waren vor allem folgende Vorrechte über die Jahrhunderte wirksam: persönliche Freiheit der Rechtsinhaber; die Vorgabe, „eine Gemeinschaft zu bilden“ („unus sit populus“); Selbstverwaltung; eigene Gerichtsbarkeit; Eigenkirchlichkeit; genaue Regelung der Pflichten (Abgaben, Heeresfolge, Gastung, also Verköstigung von Würdenträgern) statt willkürlicher Forderungen; wirtschaftliche Vorteile (Schürfrechte, Gemeinbesitz an Waldungen, Zollfreiheiten und andere).

Aus diesem „am meisten durchgeformten Fremdenrecht, das einer geschlossenen Volksgemeinschaft […] ein hohes Maß an Selbstverwaltung einräumte“ (der deutsche Mediävist Herbert Helbig), dem „ersten bekannten rechtlichen Rahmen für regionale Selbstverwaltung“ (der ungarische Quellenkundler Géza Érszegi) seien im Folgenden nur einige zentrale Aussagen kommentiert.

Freiheit

Das Wort Freiheit (libertas) kommt im „Andreanum“ nicht weniger als zehnmal vor. Es bedeutet zum einen die Gewährung eines mit Freiheiten und Autonomien ausgestatteten Rechtsstands, was eine gewisse Synonymität der Begriffe „libertas“ und „privilegium“ nahelegt, zum anderen die persönliche Freiheit der Siedler. Mobilität wie jene der deutschen Ostsiedler galt als Faktor für den Erwerb von persönlichen Freiheiten. Freiheit war im 11.-13. Jahrhundert in den zentral- und westeuropäischen Regionen, die als Herkunftsgebiete der Ost- und Südostsiedler gelten, eine Forderung und ein Ziel der von nachteiligen Beziehungen zu den Grundherren bedrohten Bauern. Nicht zuletzt der Freiheit zuliebe nahmen die Siedler die Beschwernisse einer Wanderung in ferne Regionen auf sich, wo ihnen diese garantiert wurde. Das fand sowohl in der „Goldenen Bulle“ von 1222 seinen Niederschlag, welche die Freiheiten bestätigte, die den Gästen von Anfang an garantiert worden sind („libertas, ab inicio eis concessa“), als auch im „Andreanum“ von 1224, das sich auf die Freiheiten bezieht, die ihnen zugesagt wurden, als sie ins Land gerufen wurden („libertate qua vocati fuerant“).

Gemeinschaftsbildung

„Unus sit populus“ kann man als Wunsch verstehen, dass die aus verschiedenen Gebieten des Heiligen Römischen Reiches eingewanderten Menschen, die in den Quellen als Theutonici, Saxones, Flandrenses oder Latini (Deutsche, Sachsen, Flamen, Wallonen) bezeichnet worden sind, ein Gemeinschafts- und Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln. Ein gutes Beispiel für das rasche Zusammenschmelzen unterschiedlicher westlicher Siedlergruppen zum Neustamm der Siebenbürger Sachsen bietet der aus dem heutigen Belgien stammende Wallone Johannes Latinus. Er wohnte im Jahr 1204 in „Riuetel“, einer später untergangenen Siedlung auf der Gemarkung von Heltau, „unter den Deutschen“ („inter Theutonicos Transsilvanenses“) und wurde für seine dem König geleisteten Kriegsdienste belohnt. Seine Söhne Konrad und Daniel werden bereits 1231 zum einen als Ritter und zum anderen als Sachsen bezeichnet.

Bildung einer politischen Gemeinschaft, der „Sächsischen Nationsuniversität“

„Unus sit populus“ artikulierte aber auch den Wunsch, eine autonome politische Gemeinschaft zu bilden. Das „Andreanum“ wurde zunächst nur den Siedlern des sogenannten Altlandes, der Hermannstädter Grafschaft, gewährt, die in den Urkunden als „comitatus“ oder „provincia Cibiniensis“ bezeichnet wird. Nach dem zwischen 1324 und 1331 geführten Aufstand „sämtlicher Sachsen Siebenbürgens“ gegen König Karl I. Robert, der den Woiwoden von Siebenbürgen auch zum Hermannstädter Grafen ernannt hatte, wurde ein neues Verwaltungssystem eingeführt, mit einer Einteilung in Stühle und Distrikte. Die Hermannstädter Grafschaft bildete nun die „Sieben Stühle“, das 1224 gewährte Privileg wurde stufenweise auf andere Gebiete ausgedehnt: 1315 auf das Gebiet um Mediasch und Marktschelken (die „Zwei Stühle”), 1366 auf den „Bistritzer Distrikt“, 1422 auf den „Burzenländer Distrikt“. Die untertänigen Bewohner der sächsischen Siedlungen auf Komitatsboden kamen erst nach 1848 in den Genuss der andreanischen Freiheiten.

„Aus dem Andreanum ist das siebenbürgisch-deutsche Volk erwachsen“, bemerkte Karl Kurt Klein treffend. Aufgrund des gleichen Rechtes, der gleichen wirtschaftlichen und sozialen Interessen sowie des Zusammengehörigkeitsgefühls bildete sich im 15. Jahrhundert die „Sächsische Nationsuniversität” als höchste politische, gerichtliche und administrative Repräsentanz heraus. Der Prozess wurde 1486 mit der Bestätigung des „Andreanums“ für „alle Sachsen aus Siebenbürgen“ durch König Matthias Corvinus abgeschlossen. Das schuf die verfassungsrechtliche Grundlage für die politische, rechtliche und kulturelle Autonomie der Siebenbürger Sachsen bis 1876, als die Nationsuniversität nach mehreren früheren, eher kurzfristigen Aussetzungen endgültig aufgelöst und zur – den Gemeinbesitz verwaltenden – Kulturstiftung umgewandelt, 1937 schließlich vollends zerschlagen wurde.

Eigene Gerichtsbarkeit

Die eigene Gerichtsbarkeit nach ihrem Gewohnheitsrecht erschien den Empfängern des „Andreanums“ besonders wichtig. Auf sie wird in nicht weniger als drei Artikeln des 15 Punkte umfassenden Privilegs Bezug genommen. Die Gerichtsbarkeit wurde auf Gemeindeebene vom Hannen („villicus“), in den Städten vom Bürgermeister oder Stadtrichter und dem Stadtrat, auf Stuhls- und Distriktsebene vom Stuhls- bzw. Distriktsrichter ausgeübt. Übergeordnet waren der Komitatsgraf, später die Königsrichter, ab 1486 die Sächsische Nationsuniversität, die auch Appellationsinstanz war, und letztlich der König selbst. Gerichtet wurde zunächst, wie im „Andreanum“ zugesagt, nach dem Gewohnheitsrecht. Im 15.-16. Jahrhundert wurde die rechtliche Vereinheitlichung vorangetrieben. 1544 gab Johannes Honterus ein „Compendium iuris civilis in usum civitatum ac sedium Saxonicarum in Transsilvania collectum“ heraus. In dessen Vorrede erläuterte der Humanist Valentin Wagner dessen Bedeutung: „Ein gemeinsam Gesetz schützend die Treuen erfreu!“ 1583 wurde dann mit „Der Sachssen inn Siebenbürgen Statuta oder Eygen Landtrecht“, ein bis ins 19. Jahrhundert geltendes Rechtsbuch, geschaffen und eingeführt. In einer Bestätigungsurkunde, die dem Druck vorangestellt wurde, hielt der siebenbürgische Fürst und polnische König Stefan Báthory fest, dass das „Büchlein“, „mit den alten überkommenen Rechten und Gewohnheiten, mit denen sie von alters bis jetzt einesteils gelebt, andernteils aber auf allgemeinen Rat und mit Willen Unserer Sachsen an einigen Stellen neu vermehrt“ haben, „mit dem allgemeinen Recht und der Billigkeit übereinstimme“. Ein Selbstverwaltungsverband – kein Staat! – gab sich ein Gesetzbuch, er ließ es sich vom Herrscher nur bestätigen. Das „Eigen-Landrecht“ sicherte allen Mitgliedern der „Nationsuniversität“ Gleichheit vor dem Gesetz zu. Das entspricht allerdings nicht voll den Tatsachen, denn soziale Unterschiede blieben selbstverständlich auch in der siebenbürgisch-sächsischen Gesellschaft bestehen, Konflikte zwischen Patriziat und Unterschichten waren gerade im 16. und 17. Jahrhundert besonders virulent. Im Bewusstsein der Gruppe hat sich hingegen – auch unter dem Einfluss ihrer Historiker – der Topos von einer Gesellschaft gleichberechtigter Bürger durchgesetzt („Da keiner Herr und keiner Knecht“ steht in einem Gedicht aus dem 19. Jahrhundert). An die Stelle des seit 1583 geltenden „Eigen-Landrechts“ trat erst 1853 das „Österreichische Bürgerliche Gesetzbuch“. Damit wurde die Eigengerichtsbarkeit aufgehoben.

Eigenkirchlichkeit und „geistliche Universität“

Aufgrund des „Andreanums“ konnten die Siebenbürger Sachsen ihre Pfarrer selbst wählen und an diese den Zehnten abführen, demnach eine eigenkirchliche Gemeinschaft aufbauen. Das Recht, einen eigenen Pfarrer zu wählen und über das Kirchenvermögen zu verfügen, hat den Ausbau einer kirchlichen Selbstverwaltung ermöglicht, die in Siebenbürgen „zu ihrer für abendländische Verhältnisse einzigartigen Verwirklichung und Blüte gelangte“ (so der bekannte Kirchenrechtshistoriker Dietrich Kurze). Auf die Wahrung dieses Rechtes achtete auch die politische Vertretung, die sozusagen ein Patronatsrecht wahrnahm, indem sie etwa 1302 die Pfarrerwahl in Kastenholz kontrollierte und, gegen den Willen des Hermannstädter Dekans, die einstimmige Wahl eines für das Amt eigentlich zu jungen Gräfensohns durch die Gemeinde bestätigte.

Das sogenannte Altland der Hermannstädter Provinz sowie das Burzenland wurden – offenbar auf Wunsch der Siedler – dem Erzbistum von Gran unterstellt, das allein wegen der damals schwer überbrückbaren Entfernung keine ständige und effektive Aufsicht ausüben konnte. Der Plan, eine eigene „ecclesia Theutonicorum Ultrasilvanorum“ aufzubauen, auf den die Gründung der exemten (also freien, nicht in die bestehenden kirchlichen Hierarchien eingebundenen) Ladislaus-Propstei in Hermannstadt (um 1190) hinweist, stieß auf den massiven Widerstand des in Weißenburg residierenden Bischofs von Siebenbürgen, dem später gegründete sächsische Kirchengemeinden unterstellt wurden und der überdies bestrebt war, seine Hoheit auf alle Bewohner der Region auszuweiten. Als König Andreas II. 1212 versuchte, ein neues Bistum „apud Cibiniensem ecclesiam“ zu gründen, verweigerte Papst Innozenz III. seine Zustimmung, auf Betreiben des siebenbürgischen Bischofs.

Benachbarte Kirchengemeinden haben sich früh zu Landdekanaten zusammengeschlossen, eine wohl aus dem Westen mitgebrachte kirchliche Organisationsform. Die Pfarrer bildeten, ähnlich wie die Kleriker einer Dom- oder Stiftskirche, ein „Kapitel“, das sich eigene Statuten gab und jährliche Versammlungen veranstaltete. Daneben bestand die traditionelle Organisationsform der Archidiakonate der Weißenburger Diözese, gegen die sich die Kapitel im Laufe der Zeit weitgehend durchzusetzen vermochten. Der Kampf der Pfarrkapitel um Autonomie entspann sich in der Regel an überhöhten Geldforderungen des Bischofs sowie an Einmischungen in die innerkirchliche Selbstverwaltung.

Auf diesen grundherrlichen Dörfern wurde die kirchliche Selbstverwaltung über das Patronatsrecht des Grundherrn zugestanden. Konflikte wegen der kirchlichen Gerichtsbarkeit, der Zehntabgabe oder der Pfarrerernennungen zwischen den sächsischen Gräfen und dem siebenbürgischen Bischof waren unvermeidlich. 1277 etwa arteten sie zum bewaffneten Kampf aus: Die Gräfen von Salzburg überfielen Weißenburg und verwüsteten die dortige Kathedrale.

Schon im 14. Jahrhundert bildeten die deutschen Dekanate des Landes, über die Grenzen des Graner Erzbistums bzw. des siebenbürgischen Bistums hinweg, einen eigenen Abgaben- und Rechtsverband. Aus dem Jahre 1336 ist erstmals ausdrücklich der Begriff „universitas plebanorum“ überliefert. Dieser „Universitas“ gehörten auch die Pfarrer der unfreien siebenbürgisch-sächsischen Gemeinden an. Das Gebiet der „geistlichen Universität“ war also größer als jenes des politischen Verbandes.

Die enge Zusammenarbeit der politischen und der kirchlichen Gemeinschaft der Siebenbürger Sachsen war insbesondere in der turbulenten Zeit notwendig, die auf die verhängnisvolle Schlacht bei Mohács (1526) folgte. Letztendlich erklärt die Tatsache, dass die Reformation um die Mitte des 16. Jahrhunderts alle Siebenbürger Sachsen, die freien wie die unfreien, erfassen und durchgesetzt werden konnte. Das geschah nicht zuletzt aufgrund des Rechtes auf Eigenkirchlichkeit.

Das älteste bekannte Siegel der Hermannstädter Provinz und der „Schutz der Krone“

Abb. 2: Siegel der Hermannstädter Provinz auf ...
Abb. 2: Siegel der Hermannstädter Provinz auf einer 1316 von ihr ausgestellten Urkunde. Quelle: Magyar Országos Levéltár, DL 1867).
Das „Andreanum“ sah vor, dass die privilegierten sächsischen Siedler „ein einziges Siegel führen“ dürfen, das vom König und den Großen seines Reiches „öffentlich anerkannt werden soll“. Erstmals überliefert ist die Wahrnehmung dieses Rechtes in einer Urkunde des Hermannstädter Rates aus dem Jahr 1292, die mit dem „sigillum Cybiniensis provinciae“ bekräftigt wurde. Es ist leider abgefallen. Das erste erhaltene Siegel der Hermannstädter Provinzialversammlung ist aus dem Jahr 1302, leider nur bruchstückhaft erhalten. Auf später ausgestellten Urkunden, etwa auf jener von 1316 (siehe Abb. 2), sind Aussehen und Umschrift dieses Siegels besser zu erkennen. Diese Darstellung ist mehrfach bezeugt, bis König Ludwig I. der Große im Jahr 1359 ein neues Siegel genehmigte, auf dem übrigens dieselbe Umschrift „Zum Schutz der Krone“ zu lesen ist.

Es ist aus hellem, ursprünglich weißem Wachs gefertigt, hat einen Durchmesser von 6,2 cm und war mit einem Pergamentstreifen an die Urkunde angehängt. Im Siegelfeld ist eine sogenannte Giebelkrone zu erkennen, die von zwei knieenden und zwei stehenden Männern gehalten wird. Auf den drei sichtbaren Ecken des pyramidenförmigen Giebels sind Stäbchen zu sehen; diese sowie die Spitze des Giebels enden in Kugeln. Die Umschrift SIGILLUM CIBINIENSIS PROVINCIE AD RETINENDAM CORONAM nennt zum einen den Aussteller, die Hermannstädter Provinz, zum anderen einen der Gründe für die Ansiedlung und Privilegierung ihrer Bewohner: den „Schutz der Krone“.
Abb. 3: Stephan I. der Heilige auf der Kasel, die ...
Abb. 3: Stephan I. der Heilige auf der Kasel, die er mit seiner Gattin Gisela dem Stuhlweißenburger Kapitel geschenkt hat, und das später als Krönungsmantel diente. Es soll das einzige erhaltene zeitgenössiche Porträt des Königs sein. Quelle: Wikipedia Commons
Giebelkronen sind auch auf Siegeln, Münzen und Porträts der salischen Könige und Kaiser Otto I., Heinrich III. und Heinrich VI. belegt. Im Königreich Ungarn ist eine Giebelkrone auf einer Darstellung von König Stephan I. dem Heiligen zu erkennen (Abb. 3). Es handelt sich um eine Kasel (Messgewand), die der Staatsgründer und seine Gattin Gisela 1031 dem Kapitel von Stuhlweißenburg geschenkt hatten, und die später als Krönungsgewand der ungarischen Könige verwendet wurde. Auch sein Schwager, Kaiser Heinrich II., wurde mit einer Giebelkrone inthronisiert, wie auf einer Darstellung in seinem „Perikopenbuch“ (kann auf http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00087481/image_7 betrachtet werden) und auf einer Straßburger Münze (Abb. 4) deutlich zu erkennen ist. Stephans Krone, die ihm um das Jahr 1000 vom Papst zugesandt wurde, ist nicht mehr erhalten. Die heute im ungarischen Parlament ausgestellte „Heilige Stephanskrone“ ist erst im 12.-13. Jahrhundert entstanden. (Genaueres zu diesen bisher wenig untersuchten Zusammenhängen wird ein Beitrag aufzeigen, der im Laufe dieses Jahres in der Siebenbürgischen Zeitung veröffentlicht wird.)
Abb. 4: Straßburger Denar Heinrichs II. Quelle: ...
Abb. 4: Straßburger Denar Heinrichs II. Quelle: https://ikmk.smb.museum/object?id=18202380.
Es liegt nahe, Verbindungen zwischen der Hermannstädter, der ungarischen und der römisch-deutschen Giebelkrone herzustellen. Sie können aber aufgrund der Quellenlage nicht belegt werden. Hinzuweisen ist aber darauf, dass Stephan der Heilige viele Rechtsformen aus dem Römisch-Deutschen Reich übernommen und an die ungarischen Verhältnisse angepasst hat. Überdies hatte er die Ansiedlung westlicher Siedler gefördert und seinem Sohn die freundliche Behandlung der aufgenommenen „Gäste“ dringend empfohlen. Die Interpretation eines ungarischen Autors, es handele sich nicht um ein Wappen, „sondern um eine Szene, die wahrscheinlich die Ansiedlung oder die Ankunft unter einem Dach darstellen soll“ klingt zwar für die Siebenbürger Sachsen ganz gut, da sie ja eine Gemeinschaft bilden sollten und wollten, ist aber fern jeglicher siegelkundlicher Wissenschaftlichkeit.
Abb. 5: Nachzeichnung des Hermannstädter ...
Abb. 5: Nachzeichnung des Hermannstädter Provinzialsiegels. Quelle: Albert Arz von Straussenburg: Beiträge zur siebenbürgischen Wappenkunde. Köln, Wien 1981, S. 35
Das „Andreanum“ war bis 1691 offiziell gültig, als das mit dem habsburgischen Hof ausgehandelte „Leopoldinum“ an seine Stelle trat; allerdings bestätigte dieses die 1224 gewährten Privilegien. 1784 löste Joseph II. die „Sächsische Nationsuniversität“ erstmals auf, eine Entscheidung, die er kurz vor seinem Tod widerrief. Nach der Revolution von 1848/1849 musste die Nationsuniversität wieder für mehr als ein Jahrzehnt einer zentralistischen Ver­waltungsstruktur weichen. 1876 schließlich wurde die sächsische Selbstverwaltung definitiv abgeschafft, ihr Gemeinbesitz einer Kulturstiftung übertragen. 1937 wurde die „Stiftung Sächsische Nationsuniversität“ vollends zerschlagen, ihr Besitz zwischen der Evangelischen und der Orthodoxen Kirche aufgeteilt.

Sollte man mich fragen, welche Vorgaben des „Andreanums“ unter den Siebenbürger Sachsen bis heute nachwirken, dann würde ich als Historiker antworten: das Zusammengehörigkeits- und Gemeinschaftsgefühl, das sie bis heute verbindet, das sich aus der Aufforderung ergibt, „eine Gemeinschaft zu bilden“ (unus sit populus). Davon und aus anderen Artikeln dieser Urkunde abgeleitet, die Fähigkeit, sich selbst zu organisieren, zu verwalten und gegenseitig zu unterstützen, und zwar in allen Lebensbereichen. Der Verband, das Forum, die Kirche, die zahlreichen Vereine und vieles mehr zeugen von der Aktualität des „Andreanums“. Darum maßen und messen die Siebenbürger Sachsen ihre Regierenden an der Art und Weise, wie sie ihre im „Andreanum“ bestätigten Freiheiten geachtet haben und achten.

Konrad Gündisch

Schlagwörter: Andreanum, Geschichte, Wissenschaft

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