31. August 2021
Leben im Jahrhundert der Extreme: Die Liebharts
In unseren digital geprägten Zeiten mag es durchaus hilfreich oder notwendig sein, gelegentlich auch ein in herkömmlicher Weise auf Papier gedrucktes Buch zur Hand zu nehmen. Die zweibändige Neuerscheinung „Die Liebharts – Leben im Jahrhundert der Extreme“ ist in hohem Maße geeignet, Erinnerungen an Personen und Ereignisse des 20. Jahrhunderts wachzurufen und Hintergründe damaliger Vorkommnisse aus der persönlichen, detaillierten Kenntnis, aber eher objektiven Sicht von Beteiligten zu hinterfragen.
![Dr. Otto Liebhart 1970, als Rentner, vor der ...](/bild/artikel/normal/2021/otto_liebhart_vor_lyceum_2021.jpg)
Die beiden Bücher auf eine Person, Otto Liebhart, und einen Ort, Kronstadt, zu reduzieren, wäre allerdings sehr stark vereinfacht. Die zahlreichen Mitglieder und Anverwandten der weitverzweigten Familie Liebhart, deren Vorfahren und Nachkommen, die Apothekerfamilie Scheeser aus Rosenau, die Bildhauerfamilie Storck aus Bukarest sowie unzählige Lehrer an der Honterusschule und weitere Weggefährten im Laufe der Zeit, führen dazu, dass man fast zwangsläufig auf den Seiten der Bücher Bekannte trifft. Um außer den bereits genannten nur einige Orte zu nennen, an denen die handelnden Personen anzutreffen sind: Broos, Schäßburg, Wien, Klausenburg, Leipzig, Laxenburg, Krivoi-Rog, Frankfurt/Oder, Schwarzmeerküste, Weingarten, Berlin – somit weit über Siebenbürgen hinaus in Europa. In vielen Ordnern in der Familie gesammelte Tagebuchaufzeichnungen, persönliche Erinnerungen, Fotos, Korrespondenz der Beteiligten, Erläuterungen, Fußnoten und Kommentare der Herausgeber, Protokolle dienstlicher Besprechungen sowie vertiefte Einblicke in die Securitate-Akte des Otto Liebhart wurden von den Herausgebern, drei Enkeln und einem Sohn von Otto Liebhart, akribisch zusammengetragen und zeichnen ein lebensnahes Bild des Werdegangs und einschneidender Ereignisse.
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Wir lernen Dr. Otto Liebhart in mehreren Facetten kennen: als Familienmensch, als Lehrer, als Organisator von Hilfs- und Unterstützungsaktionen, als zielbewusster Verhandlungsführer, als konsequenter Netzwerker und Kenner zwischenmenschlicher und politischer Beziehungen u.v.a. Welche dieser Facetten zu welchem Zeitpunkt den Vorrang erhält? Wie ein guter Klavierspieler scheint er immer zum richtigen Zeitpunkt den richtigen Ton getroffen zu haben. Dass er sich in den letzten Jahren in Kronstadt voll und ganz auf Familie und Lehrerberuf konzentriert und zielstrebig die Ausreise nach Deutschland vorbereitet hat, schmälert in keiner Weise seine früher erworbenen Verdienste. Auch als Rentner stand er, wenn er gebraucht wurde, stellvertretend als Lehrer zur Verfügung, so dass auch jüngere Jahrgänge von Schülern ihn kennen und schätzen lernten. In einem abschließenden Kapitel des zweiten Bandes haben die Herausgeber die insgesamt 660 Blatt umfassende Securitate-Akte des Dr. Otto Liebhart akribisch gesichtet und daraus relevante Passagen extrahiert. Es gab auch Erwägungen und Vorschläge, ihn zu verhaften, die jedoch zum Glück nicht umgesetzt wurden. In einer abschließenden Zusammenfassung in der Akte schätzt die Securitate ihn als nationalistisch eingestellt, politisch vorbelastet, jedoch für das kommunistische Regime ungefährlich und nicht kooperativ ein. Dass die kommunistische Geheimpolizei ihn so negativ beurteilt, ist geradezu als Lob des Menschen Otto Liebhart anzusehen.
Wem ist die Lektüre der beiden Buchbände zu empfehlen? Bestimmt nicht nur den Siebenbürgern, sondern allen, die an schulischen Fragen sowie an der Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts interessiert sind. Denn die Familie Liebhart ist stellvertretend für viele Intellektuellenfamilien zu sehen, die sich in einer hochdynamisch verändernden Gesellschaft und unter widrigen Bedingungen für schulische Belange und ihre persönliche Entwicklung einsetzten. Wie schön, wenn solche Menschen noch Zeit und Energie aufbringen konnten, hilfreich für ihre Mitmenschen in der Gemeinschaft zu wirken.
Horst Müller
Die Liebharts – Leben im Jahrhundert der Extreme. Band 1: Herkünfte. Herausgegeben von Ursula Gärtner in Verbindung mit Roswitha Gärtner und Dieter Liebhart. Verlag Ursula Gärtner-Nkoy, 171 Seiten, 138 Abbildungen, ISBN 978-3-00-068124-0
Band 2: Schicksale. Hrsg. von Ursula Gärtner in Verbindung mit Hans Otto Liebhart, 225 Seiten, 125 Abbildungen, ISBN 978-3-00-068125-7
Die Bücher können in Rumänien über das Erasmus-Büchercafé (www.buechercafe.ro/thema.html?cat=42) bestellt werden. In Deutschland im Buchhandel oder direkt bei der Herausgeberin (gaertner.ula [ät] googlemail.com). Preis: 19,90 Euro je Band, inklusive Versandkosten.
Schlagwörter: Kronstadt, Honterusschule, Erinnerungen, Schule, Schulgeschichte
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