22. Dezember 2019

Neue Erkenntnisse über den Lichtertbrauch in Siebenbürgen

Im Jahr 1954 stellten drei Draaser Männer, die soeben aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt waren, den Draaser „Lichtertchen“ auf einen freien Platz im Schnee, um zu dritt (mit dem Lichtert zu viert!) unbedingt ein Foto machen zu lassen. Eines ihrer wichtigsten Herzensanliegen war also der heimatliche Lichtertbrauch, der seit der Flucht von 1944 erst jetzt wieder belebt wurde.
Lichtertfotos aus früheren Jahren sind selten. Noch seltener sind bildliche Darstellungen in Gemälden. Außer einer Aquarellskizze von Trude Schullerus mit dem Neppendorfer Lichtert ist das einzige aufgefundene Hans Her­manns Ölbild auf Holz, mit dem wahrscheinlich aus Schellenberg stammenden Lichtert auf der Orgelempore. Das Bild muss laut Volker Hermann, dem Sohn des Malers, in die Jahre 1915-1920 datiert werden. Mit Hilfe dieses mit äußerster Kunstdisziplin gemalten Bildes können wir uns der Faszination annähern, welche der mit Kerzen bestückte Lichtert auf Kinder und Erwachsene früher ausgeübt hat.
Hans Hermann: Lichtert, Gemälde aus dem ...
Hans Hermann: Lichtert, Gemälde aus dem Familienbesitz. Quelle: Ausstellungskatalog „Hans Hermann … bekannt, unbekannt“. Teutsch-Haus, Hermannstadt 2015.
Hans Hermann hat einen kräftigen Hell-Dunkel-Kontrast angewendet, nur so konnte der Lichterglanz der Kerzen und der beleuchteten Fähnlein richtig gezeigt werden. Der Lichtert steht auf der Brüstung der Orgelempore, die sonst keine andere Lichtquelle aufweist. Um das Gesicht des alten Kantors trotzdem klar zu umreißen, hat Hans Hermann auf eine Darstellung des Kirchenraumes verzichtet, indem er hinter dem Kantor die ehrwürdig-alte Kirchenfahne gemalt hat. Doch wenn man durch den unteren Zwickel der Fahne hindurchblickt, sieht man das helle Licht des Betlehem-Geschehens, vor dem die zwei Silhouetten von Maria und Josef zu erkennen sind.

Die Kränze des Lichterts sind mit Marienrosen geschmückt und in dem „Aufputz“ (in anderen Gemeinden „Gepäschken“ genannt) stecken die dreieckigen spitzen Fähnlein. „E Faundelchen eos Glunzpaper turft sich e jed Medchen derhiem mochen, do halfen uch de Grießälder gare mät“, schreibt Gerda Bretz-Schwarzenbacher (1928-2017) in dem unveröffentlichten Manuskript in sächsischer Mundart „Der Lichtertbreoch eos Schallembrich“. In anderen Ortschaften fertigten die Buben die Fähnlein. Das im Bild dargestellte Schulmädchen trägt die mit roten Maschen geschmückte, typische Mädchenhaube, die in den 1960er Jahren noch hier und dort zu sehen war.
Draaser Lichtertchen mit drei Männern, die gerade ...
Draaser Lichtertchen mit drei Männern, die gerade aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft heimgekehrt sind, 1954.
Über das ganze Geschehen erhebt sich das in die Dunkelheit leuchtende „Siebengestirn“. So wurden überall in Siebenbürgen die sieben Kerzen genannt, die oben in den Aufputz oder Gepäschken gesteckt wurden.

Mit dem Siebengestirn sind wir bei den Symbolen des Lichterts angekommen. Das ganze Mittelalter stand im Zeichen der Symbolik. Denken wir nur an die vielen Wappen, Nachbarschafts- und Zunftzeichen. Hildegard von Bingen wendete sogar die Heilkräuter nach ihrer Ähnlichkeit mit menschlichen Organen an. So bieten die Symbole, aus denen der Lichtert besteht, einen Schlüssel, um ihre Entstehungszeit zu bestimmen.

Beginnen wir mit den Kerzen: Eine Kerze verbraucht sich völlig, um uns Menschen Licht zur Orientierung in der Dunkelheit zu spenden. Das ist ein klares Symbol für Christus, dessen Geburt mit dem Lichtert gefeiert wird. Die dünn gezogenen Kerzen wurden am Lichtert schräg gestellt, damit die Dochtspitze an der Luft verglimmt und der Docht nicht zu lang wird, wodurch die Flamme rußte. Bei heutigen Kerzen besorgt das ein Seidenfaden im Docht. Allerdings bedeutet die Verwendung von dicken Kerzen eine Entfremdung von der Urform des Lichterts.
Kerzer Lichtert, Nachbildung nach alten Fotos von ...
Kerzer Lichtert, Nachbildung nach alten Fotos von Oswald Kessler (links), Mitte: Neppendorfer Lichtert, Aquarell-Skizze von Trude Schullerus, 1942, rechts: Reußmarkter Lichtert, München, 2013.
Ein weiteres Symbol erkennen wir, wenn eine Kerze in die Dunkelheit leuchtet: Sie besitzt um ihre Flamme einen Schein, wie er in Gemälden bei der Darstellung von Heiligen vorkommt. Dieser Schein kann nur von einem empfindlichen Betrachter, in einer ruhigen Umgebung festgestellt werden. Bei den Kerzen reichte das Fehlen der „Lichtverschmutzung“, eine Bedingung, die im Mittelalter gegeben war. Zur Hausbeleuchtung wurden abends Kienspäne, bestenfalls eine Öllampe oder sogar das Feuer des offenen Ofens benutzt. Kerzen, die aus Bienenwachs hergestellt wurden, waren für die Hausbeleuchtung zu teuer. Erst 1818 wurde das Stearin erfunden, 1830 das Paraffin. Aus einem Gemisch der beiden konnten günstigere Kerzen hergestellt werden. Brauchbare Petroleumlampen kamen noch später auf.

Am dunkeln Himmel, ohne Straßenbeleuchtung, konnten auch das Siebengestirn und seine Bewegung am Himmel sehr gut beobachtet werden. Heißt es doch im Refrain eines bekannten Abendliedes: „Alle Berrebiemcher reispert ech, reispert ech, det Siwegestern äs hajnderm Reech.“ Die Mädchen (Meid), die das Lied sangen, wussten genau, wo sich das Siebengestirn am Himmel befand, selbst wenn sie es in den ersten Herbstmonaten hinter dem Berg (Reech) noch nicht sehen konnten. Die Wichtigkeit des Siebengestirns oder der Plejaden, wie der astronomische Name lautet, reicht sehr weit in die Geschichte der Menschheit zurück. Im Zweistromland der Sumerer wurde mit Hilfe der Siebengestirn-Schaltregel bestimmt, wann eine Korrektur des Mond-Sonnenkalenders durch Schaltjahre notwendig war. Die Kalenderberechnungen anhand der Sterne waren für viele Bereiche wichtig, weshalb dieses Wissen von den Königen bewahrt wurde. So wurde das Siebengestirn zu einem Königssymbol, welches auf vielen Rollsiegeln der assyrischen Zeit, in Begleitung von Königs- oder Götterbildern erscheint.
Postkarte nach einem Aquarell von Walter Buhe ...
Postkarte nach einem Aquarell von Walter Buhe (1882-1958), Bärenreiter Verlag, Kassel und Basel. Postkarte versendet am 19.12.1954
Auch die Germanen schufen vor 3700 Jahren ein genaues Messinstrument zur Beobachtung der Gestirne: die bronzene Himmelsscheibe von Nebra, auf der auch das Siebengestirn dargestellt ist. Am Rande der Scheibe sind kleine Löcher angebracht, in die dünne Visierstäbchen gesteckt wurden. Über diese Visierstäbchen wurde der Winkel am Horizont gemessen, wo die Gestirne, Sonne und Mond aufgingen bzw. untergingen.

Für unseren Lichtert bedeutet all dies, dass die siebenbürgischen Kinder ihr Geburtstagsgeschenk für Jesus in der Krippe mit dem Königssymbol, dem Siebengestirn, bekrönen.

Was bedeuten die Kränze mit Wintergrün am Lichtert?

In der Zeit, als die Himmelsscheibe gebaut wurde, wurde die Sonne symbolhaft durch ein Rad mit vier Speichen dargestellt, dem Sonnenrad, das über den Himmel rollt. Am 22. Juni erreicht die Sonne ihren höchsten Punkt am Himmel, von wo sie sich dann wieder abwärts wendet. Darum heißt dieser Tag Sonnwendtag oder Sonnwendfeier, denn dieser Tag musste gefeiert werden, doch wie?
Neppendorfer Lichtert vor dem Altar, 1940, ...
Neppendorfer Lichtert vor dem Altar, 1940, Postkarte, Foto: Hans Retzlaff, Berlin
Ganz einfach, indem ein Sonnenrad (ein gebrauchtes Wagenrad), auf einen hohen Baumstamm, am höchsten Punkt über dem Dorf angebracht wurde. Mit Eichenlaub und gelben oder bunten Blumen als Zeichen für die Sonnenstrahlen wurde das Sonnenrad geschmückt. Die zwei geschmückten Bögen aus Haselruten über dem Sonnenrad symbolisierten den Himmel. Später wurde das Fest auf den Johannistag am 24. Juni verlegt, es ist das Johanniskronenfest von heute in Siebenbürgen.

Da es auch eine Wintersonnwende am 22. Dezember, gleich in der Nähe des Weihnachtfestes gibt, wurde das Symbol des Sonnenrades in den Bau des Christleuchters übernommen. Es sind dieses die Lichtertkränze aus Wintergrün, die mit vier Radspeichen am Holzständer befestigt sind. Mancherorts wurden auch die Himmelsbögen in Form von dünnen Schienen übernommen. Die Kränze und das Siebengestirn weisen auf ein sehr hohes Alter für die Entstehungszeit des siebenbürgischen Lichterts.

Die Fähnlein haben eindeutig ihren Ursprung im Siegesfähnlein des auferstandenen Christus, so wie er auf alten Altarbildern oder Grabsteinen in der Ferula der Hermannstädter Marienkirche dargestellt ist. Aus Gründen der Symmetrie wurden anfangs zwei Fähnlein angebracht, deren Zahl in einigen Orten, da sich die Beteiligten selbst darstellen wollten, ständig gestiegen ist bzw. Namenskürzel und Jahreszahl tragen. Die Sonderformen des Reußmarkter, Keisder und Großpolder Lichtert entstanden, indem neue Elemente auf die Grundform aufgesetzt wurden. Das ist ein Lebensbaum aus roten Herzblättern mit Inschrift in Reußmarkt, aus Krippenfiguren in Keisd und aus einer beleuchteten Trommel mit Inschrift in Großpold.
Assyrischer König, dargestellt mit zwölf ...
Assyrischer König, dargestellt mit zwölf Königssymbolen. Das erste und das wichtigste links über der Krone: das Siebengestirn.
Die Bedeutung der Papierrosen hoben die symbolbewussten Zisterzienser Mönchen von Kerz beim Bau ihrer Marienkirche im 12. Jahrhundert hervor. Außer dem Schlussstein des Gewölbes über dem Altar, mit dem Bild der Maria als Himmelskönigin, ziert gleich den nächsten Schlussstein eine wilde Rose. Diese war im Mittelalter ein sehr beliebtes Symbol für die Mutter Jesu. Denken wir hier an das sehr alte Weihnachtlied „Maria durch ein’ Dornwald ging, da haben die Dornen Rosen getragen“. Das Lied schildert die Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten, die auf verborgenen und verwilderten Pfaden erfolgen musste. Die Kreuzritter erfuhren diese Geschichte in Jerusalem oder Nazareth von Judenchristen, Nachkommen von Verwandten der Familie Jesu, und brachten sie auf ihrem Heimweg unter anderem in das Kloster von Kerz. (Später wurde der Text des Liedes in den Besuch Mariens bei ihrer Base Elisabeth umgeändert.) Der Blumenschmuck des Lichterts war also ursprünglich das Mariensymbol der Wilden Rose. So kamen die Papierrosen auf den Kerzer Lichtert.

Das Gepäschken aus Blumen ist schlicht und einfach das Zeichen eines hohen Festes, einer „Hoch-Zeit“ zum Beispiel und wurde als solches von Braut und Bräutigam getragen. Weihnachten ist ein Hochfest im Kirchenjahr, darum musste das Gepäschken den Lichtert schmücken.

Warum wurde das Wintergrün (auch Immergrün genannt, lateinisch Vinca minor) dem Buchsbaum, Efeu oder Tannenreisig vorgezogen. Betrachten wir die hellblauen Blüten des Wintergrüns. Sie sehen Papierwindmühlen ähnlich, die sich nach rechts drehen. Das ist ein direkter Hinweis auf das sich drehende Sonnenrad. Somit konnten diese Blüten als die Augen der personifizierten Sonne betrachtet werden, weshalb nur das Wintergrün für die „Sonnenradkränze“ des Lichterts in Betracht kam, zur großen Freude der Kinder, die nun in Begleitung von zwei Presbytern in den Wintergrünwald pilgern durften, um dieses Wintergrün zu sammeln.

Neben der Urform des Lichterts mit drei Kränzen, Aufputz und Siebengestirn (siehe Foto Neppendorfer Lichtert) gibt es noch eine flächige Variante in Kerz, Petersdorf und Hammersdorf, die ihren Ursprung von der Lichterprozession zu Maria Lichtmess am zweiten Februar haben. Der Hammersdorfer Lichtert hat vier Querarme und überlange seitliche Kerzen. Das Siebengestirn ist bildlich als sieben Sterne, oben in der Mitte des Lichterts dargestellt, über welchem ein Spruchband und ein Bogen mit Kerzen angebracht sind. Nach dem Gottesdienst gingen die Hammersdorfer mit den angezündeten Lichtertkerzen nach Hause. Auch diese Einzelheit deutet auf den Brauch zu Maria Lichtmess, wo das gesegnete Licht nach Hause getragen wurde.
Die Himmelsscheibe von Nebra, 3700 Jahre alt, aus ...
Die Himmelsscheibe von Nebra, 3700 Jahre alt, aus Bronze, mit aufgesetzten Goldplättchen, zeigt das Siebengestirn, Mond, Sterne, rechter Horizontbogen, der linke ist abhandengekommen.
Mit seinen drei Kreuzarmen ist der Kerzer Lichtert ein noch handlicher Vortrageleuchter, wie bei anderen Kirchenprozessionen das Vortragekreuz. Auf die Frage, wo das Siebengestirn bei dem Kerzer Lichtert geblieben ist, gibt es eine Antwort: Der ganze Kerzer Lichtert stellt ein Siebengestirn dar, denn er ist mit sieben Kerzen bestückt. Der kleinste der drei Lichtert von Petersdorf dürfte ähnlich ausgesehen haben. Die Urform des Lichterts hat vielerorts kleinere oder größere Änderungen erfahren. Es wäre gut, wenn wir die übernommenen Elemente so bewahren, wie wir sie von unseren Vorfahren erhalten haben. Ansonsten zerstören wir die sehr alten Botschaften, welche dieser siebenbürgische Kulturschatz, der Lichtert, auch in die Zukunft tragen sollte.

Wenn Sie nun in der kommenden Weihnachtzeit das Glück haben, brennende Kerzen an einem Lichtert zu betrachten, schauen Sie genau hin, und lassen Sie sich von dem „Heiligenschein“ der Kerzen berühren.

Oswald Kessler

Schlagwörter: Lichtert, Brauchtum, Geschichte

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