26. August 2009
„Bleisoldaten“ in Grau gefangen: Johann Petri erinnert sich an die Bleimine von Cavnic
Um jedem Missverständnis vorzubeugen: nicht von jenem Kinderspielzeug soll hier die Rede sein, das früher mal aus Blei hergestellt wurde. Nein, hier geht es um eine bitter ernste Sache. Dass die Rumänische Volksrepublik Gulag-ähnlich mit Arbeitslagern und Gefängnissen für politisch unliebsame Mitbürger ausgestattet war, ist wohl keine Neuigkeit. Nicht jeder aber dürfte davon Kenntnis haben, dass es in Cavnic bei Baia Mare eines der gefürchtetsten Gefängnisse dieser Art gab. Es diente nämlich als Unterkunft für politische Sträflinge, die in den Bleiminen dieser Ortschaft Zwangsarbeit leisten mussten.
Im Dezember 1955 wurde dieses Gefängnis aufgelöst – möglicherweise, um vor der Öffentlichkeit eine scheinbare Lockerung des Staatsterrors zu demonstrieren. Das Bleierz musste jedoch auch weiterhin gefördert werden. So verfielen die Machthaber auf den Gedanken, die Zwangsarbeiter durch wehrpflichtige Jugendliche zu ersetzen, die aus verschiedenen Gründen nicht zur Ausbildung an der Waffe zugelassen waren. In der Hauptsache handelte es sich um Angehörige der deutschen Minderheit (Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben), die auch noch zehn Jahre nach Kriegsende als politisch unzuverlässig eingestuft waren. In die Kategorie politischer Unzuverlässigkeit fielen auch etliche Rumänen, weil sie Söhne von begüterten Bauern, Industriellen oder Popen waren. Etwa zwanzig Zigeuner waren auch mit dabei – ausschließlich Analphabeten –, die man offensichtlich nicht für fähig hielt, das Soldatenhandwerk zu erlernen.
Unsere Einheit wurde am 3. Januar 1956 in Stärke von etwa 500 Mann zusammengestellt und als „Arbeitsdetachement“ bezeichnet. In den zehn Holzbaracken des ehemaligen Gefängnisses wurden wir untergebracht. Zwar waren wir mit den grauen Uniformen als Soldaten „getarnt“, mussten aber in den Bleigruben – 225 m unter Tage – die gleiche schwere und gefährliche Arbeit leisten wie unsere Vorgänger.
Vor dem Arbeitseinsatz hatten wir eine Vorbereitungszeit von sechs Wochen. In dieser Zeit hatten wir auch eine Blasmusik auf die Beine zu stellen. Jeder, der zu Hause ein Instrument hatte und damit spielen konnte, bekam eine Woche Urlaub, um es zu holen. In den ersten Monaten unserer Tätigkeit wurden wir dann immer mit Musik zum Schichtwechsel begleitet. Wenn wir durch den Ort marschierten, sangen wir in der ersten Zeit oft deutsche Marschlieder, weil wir ja fast lauter Deutsche in der Einheit waren. Das gefiel unserem Kommandanten so gut, dass er uns immer wieder aufforderte, diese Lieder zu singen. Nach einiger Zeit wurde dem Kommandanten jedoch ein junger „politischer Stellvertreter“ zugeordnet. Der horchte bei unserem Gesang gleich auf. Er ließ uns am nächsten Tag vor der Arbeit in aller Herrgottsfrühe antreten und hielt uns eine Standpauke: Genossen Minensoldaten! Ich bin tief betroffen über die Art und Weise Eueres Gesanges. Ich hatte den Eindruck, nicht eine Einheit der Volksarmee, sondern einen Hitleristenhaufen vor mir zu haben. Solltet ihr es nochmals wagen, solche Lieder zu singen, werde ich euch in Ketten legen lassen und das Arbeitsdetachement wieder in ein Gefängnis umwandeln.
Fortan durften wir also nur noch rumänische Soldatenlieder singen, deren Text auch dem „Politruk“ verständlich war. Etliche Kameraden unter uns, die im Zivilberuf Lehrer waren, erhielten als zusätzliche Dienstpflicht noch die Aufgabe, den Analphabeten unserer Einheit das Lesen und Schreiben beizubringen. In der Grube arbeiteten wir in drei Schichten, jeweils acht Stunden am Tag. Weitere acht Stunden waren für „politische Erziehung“ und die restlichen acht Stunden für den Schlaf vorgesehen.
Unsere Eltern machten sich verständlicherweise große Sorgen um uns und unsere Gesundheit. Nach ihren wiederholten Bittgesuchen an die oberste Staatsführung wurden wir schließlich im September 1957 von Cavnic an die Schwarzmeerküste versetzt, wo wir in den letzten vier Monaten unserer zweijährigen Wehrdienstzeit Bauarbeit leisteten. Nach unserer Entlassung durfte jeder wieder seinen Zivilberuf ausüben bzw. seine Berufsausbildung fortsetzen.
So vergingen die Jahre. Die Zwangsarbeit war zwar zu Ende, aber die Unfreiheit im „real existierenden Sozialismus“ veranlasste uns, die einen früher, die anderen später, im Laufe der Jahrzehnte die angestammte Heimat zu verlassen und uns in Deutschland niederzulassen. Im Mai 1995 gründeten wir hier die „Kameradschaft Cavnic“: eine Vereinigung ehemaliger Bleigruben-Bergleute.
Als „Reisende in die Vergangenheit“ fuhren wir – eine Gruppe von 40 Ehemaligen, darunter auch zwei einstige politische Häftlinge – am 29. Mai 1995 nach Cavnic, um noch einmal in die alte Bleigrube einzufahren. Die Minenleitung empfing und begleitete uns dabei mit großer Freundlichkeit und Zuvorkommenheit. Im Anschluss daran bereitete man uns im Rathaus einen offiziellen Empfang. Bei der Gelegenheit wurden wir in einem Akt später moralischer Wiedergutmachung zu Ehrenbürgern von Cavnic ernannt.
Zum Gedenken an die Zwangsarbeiter, die hier vor vier Jahrzehnten ihr Leben fristen mussten, hat das Denkmalamt der Kreisstadt Baia Mare zusammen mit der Ortschaft Cavnic vor dem Eingang unseres einstigen „Arbeitsdetachements“ ein Mahnmal errichtet, auf dem als Symbolfigur der kreuztragende Christus dargestellt ist. Die rumänische Inschrift darauf lautet zu Deutsch sinngemäß: „Wanderer, vergiss derer nicht und bete für sie, die als politische Häftlinge in den Jahren 1952 bis 1955 in der Mine von Cavnic ihre Jugend und ihr Leben im Kampf gegen den Kommunismus, für Menschenwürde, Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmungsrecht des rumänischen Volkes geopfert haben.“ Ergänzt wurde dieser Text nach unserem Besuch im Mai 1995 wie folgt: „Zum Gedenken an die einstigen Minensoldaten deutscher und andersnationaler Herkunft, die am 4. Januar 1956 die politischen Häftlinge ersetzt haben“. Uns „Bleisoldaten“ aber ist unsere Zeit in Cavnic sowieso unvergesslich.
Unsere Einheit wurde am 3. Januar 1956 in Stärke von etwa 500 Mann zusammengestellt und als „Arbeitsdetachement“ bezeichnet. In den zehn Holzbaracken des ehemaligen Gefängnisses wurden wir untergebracht. Zwar waren wir mit den grauen Uniformen als Soldaten „getarnt“, mussten aber in den Bleigruben – 225 m unter Tage – die gleiche schwere und gefährliche Arbeit leisten wie unsere Vorgänger.
Vor dem Arbeitseinsatz hatten wir eine Vorbereitungszeit von sechs Wochen. In dieser Zeit hatten wir auch eine Blasmusik auf die Beine zu stellen. Jeder, der zu Hause ein Instrument hatte und damit spielen konnte, bekam eine Woche Urlaub, um es zu holen. In den ersten Monaten unserer Tätigkeit wurden wir dann immer mit Musik zum Schichtwechsel begleitet. Wenn wir durch den Ort marschierten, sangen wir in der ersten Zeit oft deutsche Marschlieder, weil wir ja fast lauter Deutsche in der Einheit waren. Das gefiel unserem Kommandanten so gut, dass er uns immer wieder aufforderte, diese Lieder zu singen. Nach einiger Zeit wurde dem Kommandanten jedoch ein junger „politischer Stellvertreter“ zugeordnet. Der horchte bei unserem Gesang gleich auf. Er ließ uns am nächsten Tag vor der Arbeit in aller Herrgottsfrühe antreten und hielt uns eine Standpauke: Genossen Minensoldaten! Ich bin tief betroffen über die Art und Weise Eueres Gesanges. Ich hatte den Eindruck, nicht eine Einheit der Volksarmee, sondern einen Hitleristenhaufen vor mir zu haben. Solltet ihr es nochmals wagen, solche Lieder zu singen, werde ich euch in Ketten legen lassen und das Arbeitsdetachement wieder in ein Gefängnis umwandeln.
Fortan durften wir also nur noch rumänische Soldatenlieder singen, deren Text auch dem „Politruk“ verständlich war. Etliche Kameraden unter uns, die im Zivilberuf Lehrer waren, erhielten als zusätzliche Dienstpflicht noch die Aufgabe, den Analphabeten unserer Einheit das Lesen und Schreiben beizubringen. In der Grube arbeiteten wir in drei Schichten, jeweils acht Stunden am Tag. Weitere acht Stunden waren für „politische Erziehung“ und die restlichen acht Stunden für den Schlaf vorgesehen.
Unsere Eltern machten sich verständlicherweise große Sorgen um uns und unsere Gesundheit. Nach ihren wiederholten Bittgesuchen an die oberste Staatsführung wurden wir schließlich im September 1957 von Cavnic an die Schwarzmeerküste versetzt, wo wir in den letzten vier Monaten unserer zweijährigen Wehrdienstzeit Bauarbeit leisteten. Nach unserer Entlassung durfte jeder wieder seinen Zivilberuf ausüben bzw. seine Berufsausbildung fortsetzen.
So vergingen die Jahre. Die Zwangsarbeit war zwar zu Ende, aber die Unfreiheit im „real existierenden Sozialismus“ veranlasste uns, die einen früher, die anderen später, im Laufe der Jahrzehnte die angestammte Heimat zu verlassen und uns in Deutschland niederzulassen. Im Mai 1995 gründeten wir hier die „Kameradschaft Cavnic“: eine Vereinigung ehemaliger Bleigruben-Bergleute.
Als „Reisende in die Vergangenheit“ fuhren wir – eine Gruppe von 40 Ehemaligen, darunter auch zwei einstige politische Häftlinge – am 29. Mai 1995 nach Cavnic, um noch einmal in die alte Bleigrube einzufahren. Die Minenleitung empfing und begleitete uns dabei mit großer Freundlichkeit und Zuvorkommenheit. Im Anschluss daran bereitete man uns im Rathaus einen offiziellen Empfang. Bei der Gelegenheit wurden wir in einem Akt später moralischer Wiedergutmachung zu Ehrenbürgern von Cavnic ernannt.
Zum Gedenken an die Zwangsarbeiter, die hier vor vier Jahrzehnten ihr Leben fristen mussten, hat das Denkmalamt der Kreisstadt Baia Mare zusammen mit der Ortschaft Cavnic vor dem Eingang unseres einstigen „Arbeitsdetachements“ ein Mahnmal errichtet, auf dem als Symbolfigur der kreuztragende Christus dargestellt ist. Die rumänische Inschrift darauf lautet zu Deutsch sinngemäß: „Wanderer, vergiss derer nicht und bete für sie, die als politische Häftlinge in den Jahren 1952 bis 1955 in der Mine von Cavnic ihre Jugend und ihr Leben im Kampf gegen den Kommunismus, für Menschenwürde, Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmungsrecht des rumänischen Volkes geopfert haben.“ Ergänzt wurde dieser Text nach unserem Besuch im Mai 1995 wie folgt: „Zum Gedenken an die einstigen Minensoldaten deutscher und andersnationaler Herkunft, die am 4. Januar 1956 die politischen Häftlinge ersetzt haben“. Uns „Bleisoldaten“ aber ist unsere Zeit in Cavnic sowieso unvergesslich.
Johann Petri
Schlagwörter: Zeitgeschichte, Zwangsarbeit, Erinnerungen
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