13. Juli 2024

Deutsch-ukrainische Fluchtgeschichten: Der Bürgermeister Peter Bullinger aus Schwaben

Wie die ganze Bevölkerung der Ukraine wurde auch die deutsche Minderheit zum Opfer des russischen Angriffskrieges. Der Programmschwerpunkt des Hauses des Deutschen Ostens in München „Deutsche in der Ukraine im Fokus“ nimmt einige Schlüsselereignisse der Geschichte und Gegenwart dieser Minderheit in den Blick. Als Teil dieses Vorhabens sollen deutsch-ukrainische Fluchtgeschichten des 20. Jahrhunderts aufgearbeitet werden. Als erste Folge wird die Fluchtgeschichte der Familie Bullinger aus der Zeit der bolschewistischen Revolution in Russland und des Bürgerkrieges, der 1918 auf dem Territorium des einstigen russischen Zarenreiches, darunter in der Ukraine, ausgebrochen war, vorgestellt. Sie wurde von ihrem Nachkommen, Dr. Wolfgang Scheibel (München), niedergeschrieben.
Aufgewachsen bin ich im schwäbisch-bayerischen Kaufbeuren, wo meine Eltern sich bald nach dem Krieg niederließen. Von dieser Herkunft bin ich geprägt. Flucht und Vertreibung, Neuansiedlung und Beheimatung bestimmten nach 1945 die Geschichte auch dieser Stadt im Allgäu. So siedelten sich in Kaufbeuren-Neugablonz nach 1945 die aus den nordböhmischen Städten Gablonz/heute Jablonec und Reichenberg/heute Liberec Vertriebenen und deren Nachkommen an. Nur die Geschichten von der alten Heimat, „so war es dahejme“, blieben den Gablonzern. „Nej su wos“ lautete die Überschrift der Gablonzer-Kolumne im „Allgäuer“. Freilich waren „die Gablonzer“ etwas „anders“ als die Kaufbeurer, sie brachten schon „was Neues“ in die angestammte allgäu-schwäbische Stadtgesellschaft hinein. Aber „man“ – das heißt beide Seiten – arrangierte sich. In den frühen 1990er Jahren kamen zu den Sudetendeutschen die Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion – meist aus Russland, der Ukraine und Kasachstan – als (Spät)aussiedler hinzu. Auch sie brachten ihre ganz eigenen geschichtlichen Erfahrungen und kulturellen Prägungen mit.

Dr. Wolfgang Scheibel präsentiert Dokumente aus ...
Dr. Wolfgang Scheibel präsentiert Dokumente aus seinem Familienarchiv sowie die über hundert Jahre alte Zuckerzange, die seine Vorfahren bei der Flucht aus der Ukraine 1919 mitgenommen haben.
Die Ereignisse seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine, also seit dem 22. Februar 2022, zeigen jedoch, dass Flucht, Vertreibung und andere Formen der (Zwangs)Migration mit diesen Fluchtgeschichten weder endeten noch der Vergangenheit angehören.

Denke ich über die erzwungene Flucht so vieler Familien aus der Ukraine infolge der aktuellen Kriegsgeschehnisse nach, so komme ich immer wieder auf die Geschichte meiner eigenen Familie zurück. Während meine Familie väterlicherseits Jahrhunderte alte Wurzeln in Füssen hat, bin ich mütterlicherseits in der dritten Generation auch Nachfahre von im Jahr 1919 aus der Ukraine geflüchteten Deutschen. Durch meine Mutter Angelika Scheibel, geborene Bullinger (1927–2021), erfuhr ich von der Lebensgeschichte ihres Vaters Peter Bullinger (1893–1970), ihres Großvaters Franz Bullinger (1845–1936) und dessen Familie. Mit diesen Erzählungen und Berichten bin ich aufgewachsen. So ist diese Geschichte der Familie Bullinger, zusammengetragen in einer Familien-Chronik nach Angaben meines Großvaters Peter, nach und nach auch zu meiner Geschichte geworden. Die Flucht meiner Vorfahren aus der Ukraine im Jahr 1919, das heißt vor über einhundert Jahren, erfährt gerade in diesen Tagen leider eine unerwartet schreiende Aktualität.

In der schwäbischen Gemeinde Klosterlechfeld bei Augsburg ist sein Name bis heute vielen in Erinnerung. Im Jahr 2022 wurde die „Peter-Bullinger-Straße“ nach ihm benannt. Peter Bullinger, mein Großvater, war hier schließlich von 1948 bis 1964 CSU-Bürgermeister.

Peter Bullinger, 1920er Jahre ...
Peter Bullinger, 1920er Jahre
Geboren wurde er jedoch in der deutschen Kolonie Steinberg am Bug in der Nähe der Stadt Nikolajew im damaligen Zarenreich; heute heißt der Ort Kyr’jakivka (Кир'яківка) und gehört zur Ukraine. Er war eines von den zehn Kindern von Franz Bullinger und seiner Ehefrau Elisabeth (geb. Kary, 1869–1959). Zwei weitere Kinder aus erster Ehe brachte Franz, der Witwer war, in diese Verbindung mit. Peter Bullinger ging 1906-1910 zur Schule im katholischen Gymnasium in der russischen Wolgastadt Saratow, 1913-1915, besuchte er ebenfalls dort ein Studienseminar. Zwischenzeitlich war er 1910-1913 Schüler am öffentlichen Privatgymnasium des Jesuitenordens „Stella Matutina“ zu Feldkirch in Vorarlberg/Österreich. Unter seinen Mitschülern waren auch zwei solch grundverschiedene Personen wie Kurt von Schuschnigg (1897-1977), in der Zwischenkriegszeit Bundeskanzler von Österreich und einer der führenden Vertreter des sog. Austrofaschismus, und Graf Josef Ernst von Fugger-Glött (1895-1981), seit 1940 Chef des ehemaligen fürstlichen Hauses Fugger von Glött, später Mitglied des Kreisauer Kreises im Widerstand gegen Hitler. Später wird Peter Bullinger diese Gegend als „meine zweite Heimat, in der ich die schönsten Jahre meines Lebens verlebt habe, die schöne Studienzeit“ beschreiben. 1915 wurde er vom Studienseminar weg in die russische Zarenarmee eingezogen und an die türkische Kriegsfront versetzt, wo er bis zum Niedergang des Zarenreiches 1917 verblieb. Später, bis zum Frühjahr 1919 war Peter Bullinger Anführer einer deutschen Selbstschutz-Einheit in seinem Kolonistengebiet in der Ukraine. Am 16. März 1919 verließen die verschwägerten Familien Bullinger, Immel und Kary, darunter Peter Bullinger, Nikolajew, nachdem sie zuvor von ihrem Heimatdorf Steinberg Abschied genommen hatten. Die Familie Johann Adam Bullinger (1791–1844) war 1818, aus Herxheim in der Pfalz in die im Schwarzmeergebiet gelegene deutsche Kolonie Katharinental eingewandert. 1869 gründete Peter Bullingers Vater Franz zusammen mit anderen Kolonisten das Dorf Steinberg am Bug. In der Ukraine hatte die Familie also über ein Jahrhundert und vier Generationen lang gelebt und gewirkt. Der ganze erarbeitete Besitz musste zurückgelassen werden. Um 1919 besaß der Kolonist Franz Bullinger nämlich 565 Desjatinen Land (gleich 524 ha), vier Desjatinen (gleich 3,6 ha) Obst- und Weingärten, Vieh und landwirtschaftliches Inventar.

Mit dabei auf der Flucht hatten sie nur wenig mehr als ein paar Koffer und die Ersparnisse von der Bank. Von Nikolajew gelangten sie per Dampfer in die Hafenstadt Odessa. Ab dem 23. März 1919 gingen sie auf Fahrt mit dem Dampfschiff „Jerusalem“ über das Schwarze Meer nach Konstantinopel/Istanbul. Per Schiff über Gallipoli und Triest, kamen die Familien am 25. April im Hafen von Venedig an. Mit dem Zug fuhren sie über den Brenner in Richtung Deutschland, ihrem unbekannten Schicksal entgegen und trafen endlich am 7. Mai 1919 im Lager Lechfeld bei Augsburg ein. Immer wieder packte Peter Bullinger das Heimweh, was er auch in seinem Tagebuch festhielt.

So endete die Geschichte der Familie Bullinger in der Ukraine. Mit ihrem schweren Entschluss zur Flucht konnte sie sich gerade noch rechtzeitig vor der Gewalt- und Terrorherrschaft der Bolschewiki in das Deutsche Reich hinüberretten. Dass es der richtige Schritt war, zeigte das weitere Schicksal der zwei Brüder von Peter Bullinger, die in der Ukraine verblieben waren: der eine wurde noch im Sommer 1919 von den Roten erschossen, der andere in die Verbannung nach Sibirien geschickt. Ihren Hof in Steinberg sahen sie nur noch einmal: während des Zweiten Weltkrieges kam ein naher Verwandte der Bullingers mit der Wehrmacht in die Kolonie und machte Aufnahmen vom Anwesen, die er nach Klosterlechfeld schickte.
Hof der Familie Franz Bullinger in ...
Hof der Familie Franz Bullinger in Steinberg/Ukraine, um 1942/43
Was ihnen von ihrem Geld, das sie aus der Ukraine mitbrachten, geblieben war, investierten die Neuankömmlinge in ein Haus mit Grundstück. Auf dem neuerworbenen Grund bauten sie, auch um bei schwieriger Versorgungslage zu überleben, wieder Tomaten und Paprika an. Die Ortsansässigen kannten beides noch nicht. Sogleich liefen die Dorfbewohner vor Bullingers Holzzaun zusammen und raunten: „Die Russen fressen aber auch alles!“ Und das obwohl die neuen Nachbarn aus der Ukraine Deutsche waren und noch ihren alten Pfälzer Dialekt sprachen. Nichtsdestotrotz galt es für die Bullinger, sich einzuleben. Am 3. August 1923 erhielt Peter Bullinger die deutsche Staatsangehörigkeit im Freistaat Bayern.

Die Mitglieder der Großfamilie blieben jedoch nicht lange beieinander. In Anbetracht der Umstände – es herrschte große Arbeitslosigkeit – und angesichts der schwierigen politischen Lage in Deutschland, bestiegen die fünf Brüder meines Großvaters Peter Bullinger bereits bald nach ihrer Ankunft, also noch vor der Hyperinflation des Jahres 1923, wieder ein Überseeschiff und wanderten nach Kanada aus. Von der „Restfamilie“ Bullinger verbleiben in Klosterlechfeld neben Peter Bullinger und seinen Eltern Franz und Elisabeth nur deren älteste Tochter Katharina und die jüngst geborene Tochter Eugenie.

Peter Bullinger war zweimal verheiratet. Florentine Wörle, mit der er 1923 die Ehe einging, stammte aus einer eingesessenen Bäckerfamilie. In den folgenden Jahren wurde er Vater von vier Töchtern, darunter meiner Mutter Angelika, und baute als kaufmännischer Leiter die Keksfabrik Wörle oHG mit auf. Nachdem seine erste Frau 1936 völlig überraschend mit vierunddreißig Jahren gestorben war, heiratete er 1942 ein zweites Mal. Agnes Warwas war eine Schlesierin aus Kattowitz. Bereits unmittelbar nach Kriegsende, im Mai 1945 setzten die US-Besatzungsbehörden Peter Bullinger als kommissarischen Bürgermeister in Klosterlechfeld ein. 1948 wurde er zu seinem ersten Nachkriegsbürgermeister gewählt; in diesem Amt blieb er bis 1964. In der Geschichte des Ortes steht er als einer, mit dem Klosterlechfeld den Anschluss an die Moderne gefunden hat. Neben der Erweiterung des Ortsgebietes im Norden, der Reduzierung der Wohnungsnot, dem Ausbau des Straßennetzes, dem Aufbau der Imhofschule und der Neuanlage des Friedhofs in Klosterlechfeld, hatte er sich insbesondere um die Eingliederung der Heimatvertriebenen, darunter vieler Sudetendeutschen verdient gemacht. So ist seine Rolle bei der Erweiterung der sog. „Tankstellensiedlung“ nicht zu unterschätzen, in der viele Heimatvertriebene ein neues Zuhause fanden.

Peter Bullinger (2.v.r.) als Bürgermeister bei ...
Peter Bullinger (2.v.r.) als Bürgermeister bei der ersten Kriegerwallfahrt in Klosterlechfeld, 1953. Seit 2022 heißt sie Männer- und Soldaten-Friedenswallfahrt.
An die Umstände des Todes meines Großvaters Peter Bullinger am 14. April 1970 erinnere ich mich, damals ein Bub von acht Jahren, und an sein Begräbnis auf dem Friedhof in Klosterlechfeld noch genau: der langjährige und verdiente Alt-Bürgermeister der Gemeinde wurde mit Fahnenabordnungen und Musikkapelle vor einer großen Trauergemeinde mit allen Ehren zur letzten Ruhe gebettet, und ich stand tief beeindruckt neben seinem Grab. Ein gelebter Nachhall auf meine andauernde Befassung mit diesem, bereits lange zurückliegenden „ukrainischen“ Anteil der Geschichte meiner Familie sind wohl meine Vorlieben für die alten Ikonen, die Musik eines Alfred Schnittke und den Gesang der Orthodoxie, für die farbkräftigen kaukasischen Teppiche; für den roten Borschtsch und den schwarzen Tee, den Tschai. Auf ihrer Flucht aus der Ukraine bereiteten ihn die Bullingers im mitgeführten Samowar, von ihnen „Tschai-niggl“ genannt, mit Zucker gesüßt, aus kräftigen Zuckerplatten herausgebrochen mit der alten Zuckerzange. Diese Zuckerzange, die zu meinem „Familienerbe“ gehört, verehre ich heute gleich einer handhabbaren Reliquie.

Dr. Wolfgang Scheibel

Schlagwörter: Ukraine, Deutschland, Flucht, Bullinger, HDO München

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