6. April 2021
Historisches Dokument der Deportationsjahre: Katalog zur Ausstellung „,… skoro damoi!‘“
Als am Verbandstag 2019 der Beschluss gefasst wurde, im Jahr 2020 der vor 75 Jahren erfolgten Deportation der Deutschen aus Rumänien in die Arbeitslager der Sowjetunion mit einer Großausstellung würdig zu gedenken, wurde dessen Umsetzung an Dr. Irmgard Sedler, Vorsitzende des Trägervereins des Siebenbürgischen Museums Gundelsheim, herangetragen. Daraus sollte in Zusammenarbeit mit dem Siebenbürgischen Museum, Leiter Dr. Markus Lörz, ein beeindruckendes Projekt werden – die Siebenbürgische Zeitung berichtete. Nach der Ausstellung im Haus der Geschichte der Partnerstadt Dinkelsbühl ist die Ausstellung im Siebenbürgischen Museum noch bis 11. August 2021 zu besichtigen.
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Mit seinen 310 Seiten wird er für die jüngere Chronik der Siebenbürger Sachsen zu einem verdichteten, wissenschaftlich relevanten und ästhetisch gelungenen historischen Dokument der schicksalsschweren Jahre 1945-1949 im Kontext der dramatischen Folgen des Zweiten Weltkriegs. Diese Thematik, bis in die 1990er Jahre in Rumänien verdrängt, findet ihre Aufarbeitung in der Literatur z.B. hochwertig im Roman Atemschaukel von Hertha Müller, der auf den detaillierten Tagebuchaufzeichnungen aus dem Lager Enakievo von Oskar Pastior fußt; ebenso in den Büchern von Erwin Wittstock, Bernhard Ohsam, Rainer Biemel und anderen, die das Selbsterlebte im Zusammenhang mit dem Trauma der siebenbürgisch-sächsischen Gesellschaft literarisch eindringlich verarbeiten. Wissenschaftlich in die Tiefe geht das dreibändige Werk zur Deportation der Siebenbürger Sachsen des Soziologen Georg Weber und MitautorInnen, ebenso die Dokumentationen von Hannelore Baier, Annemarie Weber, weiteren FachwissenschaftlerInnen und Herausgebern wie der rumänische Diplomat Ilie Schipor, denen nach 1990 die rumänischen und russischen Archive zur Forschung geöffnet wurden. Die bis dato erschienenen gedruckten persönlichen Berichte oder auch die Anthologie „Lagerlyrik“ von Renate Weber-Schlenther und Günter Czernetzky, die in Russland entstandene Gedichte und Zeichnungen dokumentiert, sind erschütternde Zeugnisse von festgehaltener Leiderfahrung Einzelner, die mit ihrem Erlebten Geschichte schreiben.
Das Buch von Irmgard Sedler, Museumsleiterin und interdisziplinär arbeitende Wissenschaftlerin, geht, wie für einen Museumskatalog üblich, von der Materialkultur aus. Er greift dabei auf gesicherte historische Fakten und Dokumente zurück, die allerdings für die umfassend facettenreiche Darstellung der Thematik nur das hinterfragende Gerüst liefern. Mit dem verflicht die Autorin dann soziologische, erinnerungspsychologische und kulturgeschichtliche Erkenntnisse und Ergebnisse der eigenen jahrzehntelangen Recherche. Streiflichtartig neu ins Visier genommen wird hierbei im Kontext sowjetischer Reparationsforderungen der Befehl zur Deportation deutscher Volksgruppenzugehöriger aus fünf Ländern, demzufolge auch die Verschleppung der Siebenbürger Sachsen erfolgte. Besonders berücksichtigt wird dabei auch die Einbeziehung der Industrieregion Donbass und ihr Stellenwert im Kontext stalinistischer Industriepolitik mit den Folgen für die russische Zivilbevölkerung und die Zwangsarbeiter aus Siebenbürgen. Den Fragen, inwieweit traditionelle sächsische Sozialstrukturen in der Deportation noch weiterwirkten oder auch nicht (Zusammenhalt aufgrund gleicher örtlicher Herkunft, oder was bewirkte der zwangsmäßige Wandel vom bürgerlichen oder bäuerlichen gesellschaftlichen Status in der Heimat zu dem des entrechteten Proletariers und seiner entsprechenden Arbeitswelt und -haltung in der Deportation) wird mit Fachwissen nachgegangen und mit Interviewaussagen Betroffener belegt. Die Fotografie als bleibendes Abbild im Prozess der überlebensnotwendigen ethno-kulturellen Selbstvergewisserung des Einzelnen oder der Gruppe wird mit ihrem Narrativ dokumentierend eingesetzt. Ein weiterer neuer und wichtiger Aspekt zur umfassenden Wiedergabe dieses geschichtlichen kollektiven Geschehens ist die Aufarbeitung und Darstellung der Ereignisse und ihrer Zeugnisse nach der Entlassung aus den Arbeitslagern, wobei der Heimweg als Umweg über die Ostzone des geteilten Deutschlands zur letzten großen kräftezehrenden Herausforderung wird, hier in Erinnerungen, Fotografien und Objekten nachvollzogen, belegt.
![Marianne Hüttel: Einzug ins Lager Lubovka 1241 am ...](/bild/artikel/normal/2021/skoro_damoi_foto_riemer_2021.jpg)
Dem historischen Geschehen wird im Katalog ein lyrisches Produkt als Motto vorangestellt, das „Russlandlied“: In sechs Strophen ist das schicksalhaft ertragene Leid der Deportierten, ihre Sehnsucht und Hoffnung in schlichte Vierzeiler gefasst. Es ist zum Volkslied geworden. Schon solcher Eingang vermittelt die Absicht Sedlers, sowohl in Ausstellung als auch in ihrem Katalog so nah wie möglich an den Menschen mit seiner Erlebnis- und Gefühlserfahrung heranzuführen.
In einem ersten Teil erfolgt in zehn Kapiteln eingängig aufklärend die Einführung in das historische, sozialpolitische und individuelle Geschehen: Voraussetzungen und Verlauf der Maßnahme Zwangsdeportation, die als Reparation der Kriegsschäden in der stalinistischen Sowjetunion galt. 551.049 arbeitsfähige Männer und Frauen deutscher Volkszugehörigkeit aus fünf osteuropäischen Staaten, 70.467 aus Rumänien, wurden in sowjetische Arbeitslager in der Ukraine und bis nach Westsibirien zwangsdeportiert. In Rumänien waren in die Operation 664 Offiziere und Fachkräfte des Innenministeriums und der Staatssicherheit sowie 10.443 Offiziere aus den Sondertruppen des Innenministeriums und 1.030 Offiziere und Untergebene der Roten Armee einbezogen. Dokumente und Berichte von Betroffenen belegen den Text zum Geschehen, wobei der „an Dramatik kaum zu überbietende Schlüsselmoment der Deportation“ die „Aushebung“ der Betroffenen war (S. 11). Dokumente, Quellenangaben und Berichte belegen die Informationen, Kartenmaterial, Zeichnungen, Skizzen und Fotografien begleiten und ergänzen ihn. Vom Eingangskapitel dann über Aushebung und Weg in die Verbannung über den Arbeitsalltag der „Arbeitssklaven“ mit Überlebensstrategien, Tod und Trauer, bis zum Kapitel Heimkehr bieten Text und Beigaben dem Leser historische und menschlich sehr nahegehende Information zu der dunklen Zeitspanne im langen, unheilvollen Schattens des Weltkriegs, der hier von Siebenbürgen bis ins ferne Sibirien reicht. Dem nüchternen thematischen Titel der einzelnen Kapitel wird jeweils ein Zitat Betroffener vorangestellt, das Erfahrenes belegt und emotional heranführt Kapitel 1 mit den geopolitischen Koordinaten und dem traumatisierenden Geschehen wird das Zitat „So war´s ein Spuk, den wir erfahren?“ (Daniel Bayer) vorangestellt, im folgenden Kapitel ist die Aushebung am „13. Januar, du schwarzer Tag, … wie ein Denkmal steht´s geschrieben!“ (Margarete Welther). Die Herausforderungen des Lageralltags titelt die Metapher „Rauhreif blüht im Stacheldraht“ (Joseph Fuchs), die Arbeitssklaven im Kommunismus werden mit „Paschli, dawaj, grusit Wagon!“ (Los komm, Waggon aufgeladen) angetrieben (Kap. 5). Wie nahe Überleben und Tod sich standen, titelt das Zitat von Oskar Pastior „Fünf Jahre lang trotzdem gelebt…“ (Kap. 6) und die Allgegenwart des Todes beschwört eine Verszeile von Frida Binder-Radler: „Der Todesvogel singt sein Lied, wo sonst die Lerche schwirrt …“ (Kap. 7).
![Gamelle, ursprünglich wohl aus dem Bestand der ...](/bild/artikel/normal/2021/51_gamelle.jpg)
![Feldpostkarte des Roten Kreuzes – schwarz ...](/bild/artikel/normal/2021/100_feldpostkarte.jpg)
Längere Textfragmente führen zum Abschluss dieses Dialogs noch intensiver an das Erlebte heran, sie stammen aus dem Tagebuch von Fritz Göckler, aus Typoskripten von Alice Schuller-Schwarz, Dora Caspari, Richard Mild, Hildegard Servatius, Karl-Heinz Schneider, Maria Wächter, Gerhard Servatius.
Die Lagerskizzen von Fritz Göckler, die kolorierten Zeichnungen aus dem Lageralltag von Marianne Riemer, Lorenz Klugesherz, Marianne Hüttel und anderen, die Porträtgalerie von Emmerich Amberg und Friedrich Bömches, alle sind Teil der großen Erzählung der Deportation in die Lager hinter Stacheldraht, der vom Cover des Buches als Bildchiffre von Designer Christian Jakobi weiter zwischen die Kapitel gespannt wird, so wie er das Leben begrenzte, in dem lange Zeit die Hoffnung lebte „… skoro damoi!“
Karin Servatius-Speck
Irmgard Sedler: „‚… skoro damoi!‘ Hoffnung und Verzweiflung. Siebenbürger Sachsen in sowjetischen Arbeitslagern 1945-1949“. Herausgegeben vom Siebenbürgischen Museum, Verlag Renate Brandes, Altenriet, 312 Seiten, 29,00 Euro, ISBN 978-3-9819701-9-7. Der Katalog ist im Buchhandel oder gegen Rechnung für 29,00 Euro, zuzüglich Versandkosten, beim Siebenbürgischen Museum, E-Mail: info[ät]siebenbuergisches-museum.de, erhältlich.
Schlagwörter: Ausstellung, Russlanddeportation, Siebenbürgisches Museum, Irmgard Sedler, Katalog, Buchvorstellung
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