7. Juni 2024

Fesselnd. Inspirierend. Beglückend. Iris Wolff liest in Nürnberg

„Wenn ich nach Siebenbürgen fahre, habe ich den Eindruck, ein Teil dieser Welt zu sein. Alles, was vergeht, was im Verschwinden begriffen ist, ist es wert, bewahrt zu werden, ist es wert, in der Kunst seinen Platz zu finden.“ O-Ton Iris Wolff am 3. Mai im Gemeinschaftshaus Nürnberg-Langwasser. Ob sie sich vorstellen könne, lautete eine Frage aus dem vollbesetzten Saal, künftig, in weiteren Romanen, die Handlung wohl auch in einer anderen, von Siebenbürgen entfernten Umgebung zu platzieren? „Ich denke schon, dass ich diesem Kulturraum die Treue halte und wohl auch halten werde.“
Berauschender Dialog: Iris Wolff (links) und ...
Berauschender Dialog: Iris Wolff (links) und Dagmar Seck Foto: Angelika Meltzer
„Lev und Ferry kamen gerade an, als die Sonne sich zwischen den Platanen verfing. Sie setzte flüssiges Orange in die Äste, übergoss die Wiese mit fast waagerechtem Licht.“ Zauberhaft.

„Liebe Iris Wolff, liebe Iris, herzlich willkommen in Nürnberg und danke, dass du uns erneut, zum dritten Mal nach April und Oktober 2016, mit einer Lesung beehrst. Wir sind gespannt auf deine Worte und freuen uns, von dir in deine kunstvollen Sprach- und Bildwelten verführt zu werden.“ Angelika Meltzer, Vorsitzende des „Nürnberger Kulturbeirates zugewanderter Deutscher“, führte mit präzisen Daten und Fakten zur Autorin und zu ihrem Werk in einen berauschenden Abend mit Iris Wolff ein. Nach ihrem Debüt-Roman „Halber Stein“, 2012, folgten „Leuchtende Schatten“ (2015), „So tun, als ob es regnet“ (2017), „Die Unschärfe der Welt“ (2020) und im Januar 2024 „Lichtungen“, ihr bisher bedeutendster und folgenreichster Erfolg. Angelika Meltzer merkte an: „Iris Wolff hat sich einen festen Platz in der deutschen Literaturszene erobert. (…) Die Liste aller Ehrungen, Stipendien und Preise ist inzwischen zu lang, um hier vollständig aufgezählt zu werden. (…) ‚Lichtungen‘ eroberte geschwind die Bestsellerlisten. (…) und stand schon im Februar als Krönung auf Platz 2 der Spiegel-Bestsellerliste. Ein fulminanter Aufstieg ist also diesem Roman beschieden.“ Stimmt. Seit Januar absolvierte die Autorin schon mehr als 25 Lesungen, bis Ende 2024 sind weitere mindestens 25 terminiert. Wie klug, dass wir an diesem Abend den großen Saal im Gemeinschaftshaus Langwasser zur Verfügung hatten. Im neuen großen Saal im Haus der Heimat hätte der Platz für die hereinströmenden Interessierten nicht gereicht. Sogar die rund 80 verkauften und vor und nach der Lesung freundlich von Iris Wolff signierten Bücher waren für das hohe Interesse nicht ausreichend.

Vor ihr auf dem Tisch ihr Buch, ihr gegenüber an diesem Abend auf der Bühne klug, locker, textnah, sehr aufmerksam fragend und kommentierend Dagmar Seck, unsere Bundeskulturreferentin. Beide spielten sich die Wort-Bälle anlassentsprechend stimmungsvoll zu. Iris Wolff, versiert, was Lesungen oder Sprechen vor Publikum anbelangt, mit ihrer einnehmenden Erscheinung – diese Iris Wolff zog uns in ihren Bann. Gleichgültig, ob sie Fragen zum historischen und sozialen Hintergrund, Vielvölkerstaat Rumänien, zum Thema Mischehen oder der herausragenden Rolle der Bunica (Großmutter) in der Familie, um Bleiben oder Gehen, um Integration, um Erfolg, um Nationalität und Staatsangehörigkeit, passend zum Land um komplexe Familienverhältnisse, um Erinnerung, um das Schreiben eines Romans ging. Keine Frage blieb ohne sichere Antwort.
Protagonistinnen des Abends (von links): Iris ...
Protagonistinnen des Abends (von links): Iris Wolff, Angelika Meltzer, Dagmar Seck. Foto: Margarita Zippel
„Erinnerung ist schön, kann auch sehr schmerzhaft sein. Vergessen, ist notwendig und wichtig. Was bleibt, das ist das uns Prägende.“ Und noch deutlicher: „Literatur ist Schreiben gegen das Vergessen.“ Und ganz hart: „Worüber man nicht sprach, worüber man nicht spricht, ist nicht gewesen.“ Aber: „Das Wandelbare, das Unbeständige der Erinnerungen fasziniert mich, das Unterwegs sein, das auch in diesem Roman zentrales Thema bleibt, will ich genießen.“ Schließlich: „Auf die Erinnerung können wir uns letztlich nicht verlassen: sie ist ganz verwandt mit Geschichten,“ meint Iris Wolff. Es gelte ein tragbares Verhältnis von eigener Erinnerung, Erzählungen anderer, Recherchen vor Ort, die immer wieder sehr authentisch sind, mit einer großen Portion Fantasie zusammenzuführen. Das mache Romanschreiben letztlich aus. Das Tatsächliche und das Erdachte fügen sich zusammen. „Charaktereigenschaften von mir, schleichen sich in die Figuren, Figuren können gleichzeitig aber etwas tun, was ich nie getan hätte, beziehungsweise gekonnt hätte. Ich versuche, aus dem inneren Leben der Figuren heraus, aus Geräuschen, aus Klängen Bilder zu schaffen, Geräusche und Klänge in Bilder umzusetzen.“ Sie betonte, Form und Inhalt eines literarischen Textes sollten zusammenpassen. „Ich mag es, eine spezielle Form mit dem Inhalt zu verbinden.“ So tut sie es auch in dieser Geschichte über Kato und Lev mit dem überraschenden „Rückwärtsschreiben“. Diese Rückwärts-Erzählung hat etwas damit zu tun, dass wir im Prinzip von der Gegenwart ausgehend in unsere Vergangenheit blicken, um zu erfahren, wer wir sind, was wir sind, was unsere Identität ausmacht. Letztlich sind es ja auch die Erfahrungen, die unsere Identität prägen. Und diese liegen in der Vergangenheit. Im stufenweisen Rückblick können wir sie erkennen. „Kato und Lev sind Lebensmenschen füreinander. Sie begegnen einander. Mit unterschiedlichen Energien. Begegnungen zwischen den Menschen sind immer Erweiterungen der eigenen Komfortzone.“ Lev und Kato sind sehr unterschiedliche Charaktere, sie geht, er bleibt, er radelt durch Siebenbürgen, sie treffen sich und reisen von Zürich nach Paris, dann Nantes, Montpellier … Sie lassen sich treiben. … Man müsse immer bereit sein aufzubrechen … Diese Reise von Kato und Lev, diese Reise von zwei sehr unterschiedlichen Menschen, von denen eigentlich unklar bleibt, ob sie wirklich zusammen weiterreisen werden, ob sie zusammenbleiben werden, ob sie sich in besonderer Art mögen und lieben, diese Reise in eine tobende und zugleich entfesselte Welt, diese nachvollziehbare und zugleich vom Leser erweiterbare Reise, diese Reise geht weiter, auch wenn man das Buch ausgelesen hat und es vielleicht noch einmal von vorn liest. Denn die subtile Einladung an den Leser, seine eigenen Wünsche und Vorstellungen in die unscharfe Handlung einzubeziehen, sie fällt hier auf fruchtbaren Boden. Lev und Kato (wie wir alle) seien stark durch ihre Kindheit geprägt. „Sehr viel Prägung findet in den ersten Lebensjahren statt, so etwa bis zum achten Lebensjahr. Die Welt wahrnehmen, die Fähigkeit zu lieben, findet ganz früh statt.“

Iris Wolffs verdichtete Sprache ist bezaubernd. Unaussprechliches wird von ihr wortreich mitgeteilt. Präzise und klar tummeln sich unerwartete Sprachbilder, geglückte Metaphern, faszinierende Naturbeschreibungen, fesselnde Darstellungen von Vorgängen oder Personen, letztlich ungewohnt und gewinnbringend in ihren Romanen. Nicht nur in ihren Texten, nein, auch im Gespräch vor und mit dem Publikum. Iris Wolff spricht gewählt, klar, melodisch, sachkundig, rund, sicher, talentiert, überzeugend. Was und wie sie schreibt, ist wie bei der von ihr hoch angesehenen Nobelpreisträgerin Herta Müller oder, zurückblickend, und von ihr ebenso hochgeschätzt, bei Franz Kafka, ganz große Literatur. Sie bekennt, es sei gar nicht einfach mit diesem großen Erfolg umzugehen, jedoch eines sei klar, „meine Eltern sind stolz auf meinen Werdegang.“

Unlängst hieß es bei der Literatur Bühne in Leipzig, Iris Wolffs Roman, das sei „Heimatliteratur mit neuem Klang.“ Ja, sagt sie, Heimat sei ein innerer Ort. Die bisherigen fünf Romane seit 2012 spielen hier … Rumänien sei so etwas wie ein Europa im Miniaturformat. Was sind wir in Siebenbürgen? Siebenbürger Sachsen, Ungarn, Rumänen, Szekler, Roma? Im Prinzip sind wir Menschen aus einem breitgefächerten, historisch ungemein reichhaltigen Kulturraum mit gleichen bzw. ähnlichen Bestrebungen, denen gewisse Vorkommnisse individueller oder gruppenspezifischer Art (etwa die Erfahrungen mit der kommunistischen Diktatur, mit der Securitate, oder der Auswanderung der Deutschen, seit Jahren auch Millionen von Rumänen) die persönlichen oder kollektiven Lebensbahnen prägend beeinflusst haben. „Man ist ein einmal Gegangener, immer ein Gehender.“ Dieses Unterwegs-Sein, das ist ein bevorzugtes Thema bei Iris Wolff. Und dann las sie die Auswanderungs-Passage aus Kapitel 7 vor: „Die Auswanderung war unausweichlich. Wie eine Sucht. Jeder fürchtete, der letzte zu sein. … Von nun an sah Lev die Dörfer, durch die er mit seinem neuen Rad fuhr, mit anderen Augen. Er hatte zuvor kaum darauf geachtet, auch in seinem Dorf gab es verlassene Häuser, verwaiste Gärten. Auch in seinem Dorf war es über die letzten Jahre so gewesen, dass ein jeder den anderen ansah mit dem Blick: Gehst auch du? Dass vor den Toren, auf den Bänken immer jemand von jemandem zu berichten wusste, der ging und mit jedem, der ging, wuchs der Gedanke, ebenfalls zu gehen. Und mit jedem, der blieb, festigte sich die Hoffnung, bleiben zu können.“

Am Ende dieses bedenkenswerten Abends, nach dem gemeinsamen Schmaus in der benachbarten „Esskultur“ mit rund 25 begeisterten Iris-Wolff-Anhängern, bilanzierte die Autorin auf die Frage, ob der heutige Abend hier in Nürnberg für sie ein besonderes Erlebnis gewesen sei, im Interview: „Ja, für mich war das ein besonderer Abend, weil das Publikum so gemischt war. Auf der einen Seite waren viele Siebenbürger Sachsen da, aber auch einfach literaturinteressiertes Publikum aus der Stadt, manche Menschen, die noch nie ein Buch gelesen haben von mir, andere wiederum, die schon alle Bücher gelesen haben, diese Mischung hat mir gefallen und es war auch etwas Besonderes, weil ich mich so willkommen gefühlt habe durch die Begrüßung auch, von Angelika (Meltzer), durch die Werbung, die gemacht wurde, es war einfach ein sehr herzlicher Empfang.“ „Das Publikum war sehr zugewandt, hoch konzentriert, im Gespräch und während der Lesung, hat auch gelacht, ist mitgegangen, hat geschmunzelt – und das ist nicht immer so. Die Leute genießen eine Lesung manchmal, zeigen dies nicht, trauen sich nicht, zu lachen oder so. Das fand ich sehr zugewandt und entspannt auf eine bestimmte Art und Weise. Und die Fragen waren gut. Und auch Fragen, wo ich dachte, die Leute kennen dich wirklich. Ein Mensch hat mich nach meinem Lieblingsbaum gefragt. Das war ganz interessant. Woher weiß er das? Habe ich irgendwo irgendwann das gesagt? Man weiß ja auch selber nicht immer, was man irgendwo gesagt hat. Ja.“ Fazit? „Ich will unbedingt wiederkommen mit meinem neuen Buch. Aber das dauert noch einige Jahre!“ Wir warten geduldig. Iris Wolff hat uns an diesem Abend gefesselt, inspiriert, beglückt. Danke.

Horst Göbbel

Schlagwörter: Iris Wolff, Lesung, Nürnberg, Literatur

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