27. März 2008
Stefan Sienerth: produktivster siebenbürgisch-deutscher Literaturwissenschaftler der Nachkriegszeit
Die meisten der Literaturhistoriker, -kritiker, Hochschullehrer und Kulturjournalisten, die in den 1960er Jahren, vor allem in deren zweiten Hälfte, als Neulinge die kleine rumäniendeutsche Szene betraten, erkletter(te)n im ersten Jahrzehnt des neuen Millenniums eine Alterstufe, die zu einer Bilanzierung ihrer Verlautbarungen und Aktivitäten unter Zensurzwängen, aber auch ihres Weiterwirkens nach dem Sturz der nationalkommunistischen Diktatur im Dezember 1989 geradezu herausfordert. Zu ihnen gehört nicht zuletzt der Jüngste unter ihnen, der am 28. März 1948 in der siebenbürgischen Gemeinde Durles geborene Stefan Sienerth, dem gleichermaßen ein immenser Fleiß, gewissenhafte Zielstrebigkeit und eine in langjähriger Arbeit erworbene Sachkompetenz dazu verhalfen, über Zeiten und Grenzen hinweg in seinem Fachbereich kontinuierlich wirken zu können.
Die ersten Auftritte dieser Studenten bzw. Absolventen eines Germanistikstudiums an rumänischen Universitäten erfolgten in einer Zeit relativer Liberalisierung der Ausdrucksmöglichkeiten, als sich in Lehre, Forschung und Publizistik erweiterte Handlungsspielräume eröffneten und Methodenvielfalt in der Auseinandersetzung mit literarischen Texten sich Bahn brach. Außerdem zog es in den 1960er und 1970er Jahren viele Banater Schwaben und Siebenbürger Sachsen zum Studium der deutschen Sprache und Literatur, auch an den Germanistik-Lehrstühlen wirkte eine wachsende Zahl von Angehörigen der deutschen Minderheit mit. In Hermannstadt, Klausenburg und Temeswar etablierte sich zeitweilig eine „muttersprachliche“ Auslandsgermanistik.
In den Feuilletonabteilungen der deutschen Zeitungen und Zeitschriften, in der Redaktion der Bukarester Monatschrift Neue Literatur kam es desgleichen zu einem Generationswechsel. Ebenso wie junge Autoren wurden auch angehende Literaturkritiker von den Printmedien intensiv gefördert – in jenen Jahren des Werdens und der Wahne, als die trügerische Hoffnung aufloderte, dass die Ära der Lügen und des Schreckens ihrem Ende entgegengleite. Diese Alterskohorte befürwortete nicht nur den Anschluss an die Formensprache der Moderne, sondern befreite auch die langjährig vergitterten kulturellen Traditionen zu neuem Leben und förderte Verschollenes und Vergessenes ans Tageslicht. Dass die jungen Akteure dabei unterschiedlich gewichtete Kompromisse einzugehen hatten, war ihnen bewusst, doch, gemessen an den extrem restriktiven 1950er Jahren, agierten sie unverkrampft, mitunter auch streitlustig und nutzten die Freiräume oft bis an deren Grenzen.
Dabei konnte es nicht ausbleiben, dass man auch miteinander polemisierte, Zweckbündnisse auf Zeit einging oder Freundschaften schloss, von denen einige zerbrachen, andere sich als korrosionsbeständig erwiesen. Und so schreiben denn aus heutiger Sicht gealterte Weggefährten anlassbedingt Freundliches über Freunde, die desgleichen in die Jahre gekommen sind, wobei gelegentlich das Prinzip der Gegenseitigkeit funktioniert – was sicherlich einer gewissen Komik nicht entbehrt. Auf Stefan Sienerths Wortmeldungen zu meinem 50. und 60. Geburtstag folgt nun eine ‚Replik‘, so schlecht, so gut ich’s eben kann.
Als Germanistikstudent in Klausenburg erspähte ich in der Bibliothek der Philologischen Fakultät immer mal wieder einen etwas jüngeren Kommilitonen, der, über Bücher gebeugt, eifrig exzerpierte, sich keine Verschnaufpause gönnte und auch länger als die meisten Leser hier ausharrte. Bislang hatte ich noch kein Wort mit ihm gewechselt, doch an einem Herbstabend des Jahres 1967 sprach ich ihn an und befragte ihn etwas überheblich über meinen Lieblingsdichter Rainer Maria Rilke und, siehe da, der Junge konnte sogar einige Frühverse des Pragers zitieren. Zu dem unstillbaren Nachholbedürfnis gesellte sich sehr bald auch sein Wunsch, Gelesenes und Erforschtes zu kommentieren. Als ich ein gutes Jahr später Redakteur der deutschen Seiten der dreisprachigen Klausenburger Studentenzeitschrift Echinox wurde, habe ich ihn als Mitarbeiter ‚angeheuert‘ und seine ersten Beiträge – u. a. einen Aufsatz über Else Lasker-Schüler – veröffentlicht. Zwischen uns hatte sich ein von jeglichem Misstrauen ungetrübtes Vertrauensverhältnis herausgebildet. Ich erinnere mich noch sehr wohl an einen Tag im Jahr 1978, an dem er Franz Hodjak und mir – mit einer von Furcht und Besorgnis gedämpften Stimme – über bislang vergebliche Anwerbungsversuche des Geheimdienstes Securitate erzählte. Franz und ich hatten diese Erfahrung einer Verweigerung ohne schwerwiegende Folgen schon gemacht und rieten auch ihm, weiterhin standhaft zu bleiben. Und fast 30 Jahre später, im Sommer 2007, saßen wir selbdritt in dem Lesesaal der 1999 gegründeten Behörde CNSAS in Bukarest, die Antragstellern die Einsicht in die eigene Securitate-Akte ermöglichte, und buchstabierten, erschüttert und erheitert, Hunderte von Seiten durch.
An der Uni vermittelte der beliebte Lehrer vorrangig ‚Kanonisches‘, bot u. a. Veranstaltungen über Methoden der Literaturwissenschaft, über die Frühromantik, den Vormärz und bürgerlichen Realismus, den Stilpluralismus um 1900, den deutschen modernen Roman an, lehrte aber auch schon ab 1978, dem Jahr, in dem er zum Dozenten befördert wurde, siebenbürgisch-deutsche Literaturgeschichte. Was ihn dazu bewogen hat, die historische Kulturlandschaft Siebenbürgen und die rumäniendeutsche Literatur der Zwischenkriegszeit zu durchstreifen und dabei unverhoffte Entdeckungen zu machen, war die sich auswachsende Überzeugung, infolge der für ihn geltenden Reiseverbote und der prekären Dokumentationsmöglichkeiten über die Autoren des „Zentrums“, nur bei der Durchforstung „regionaler“ Problemfelder neue Forschungsergebnisse erarbeiten zu können. 1979 promovierte Stefan Sienerth an der Universität Bukarest mit einer Arbeit über die siebenbürgisch-deutsche Lyrik um die Jahrhundertwende zum Dr. phil. – nachdem er sich durch einschlägige Publikationen als Hoffnungsträger der Zunft transsilvanischer Nachkriegs-Germanisten ausgewiesen hatte, deren produktivster Vertreter zu sein er heute in Anspruch nehmen darf. Mit einem ausgeprägten Gespür für das Machbare ausgestattet und von einem eitelkeitsfremden Ehrgeiz beflügelt, vergrub er sich in die Bestände der Brukenthal-Bibliothek und in die des Hermannstädter Staatsarchivs, erschloss Nachlässe, entzifferte geduldig alte Handschriften und musterte überlieferte Briefschaften. Ohne Berührungsängste, mit einer beneidenswert zupackenden Art, nahm er eine Menge von Publikationsangeboten an. Stefan Sienerth verfasste universitäre Lehrwerke, schrieb Studien, Aufsätze, Gedenkartikel, Rezensionen für wissenschaftliche und Publikumszeitschriften, für Wochenblätter, Tageszeitungen und Kalender. Er lieferte für drei im Teamwork erstellte Literaturgeschichten gattungshistorische Längs- und periodenbezogene Querschnitte, problemgeschichtliche Synopsen und Autorenporträts, edierte Gedichte von Georg Hoprich (1979), von Gerda Mieß (1987) und Werke von Hermann Klöß (1989).
Gleichzeitig konzentrierte er sich auf die Verwirklichung eigenständiger Projekte, einem „Marathonläufer“ vergleichbar: der Abfassung – im Alleingang – einer Geschichte des siebenbürgisch-deutschen Schrifttums und der Herausgabe von Texten dieser Literatur in ihrem historischen Wandel. In drei Büchern (1984, 1989 und 1990) bot er auch heute noch lesenswerte, gut gegliederte Überblicke von den Anfängen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts an, ihnen stellte er vier Lyrikanthologien (1978, 1980, 1982, 1986), die, ebenso wie seine Monographien, im Klausenburger Dacia Verlag erschienen, an die Seite. Durchaus im Sinne eines ererbten Rollenverständnisses bemühte er sich erfolgreich, Kontinuitätslinien nachzuzeichnen, Archive auszuwerten, die Erinnerung an das kulturelle „Erbe“ seiner Herkunftsgemeinschaft wach zu halten – in einer Zeit verordneten Vergessens.
Nach der Auflösung der Germanistik-Abteilung im Jahre 1986 wurde der Mundartsprecher Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Lexikographie am Forschungsinstitut für Sozial- und Geisteswissenschaften in Hermannstadt, wirkte als Koautor an mehreren Bänden des Siebenbürgisch-Sächsischen Wörterbuches mit und richtete sein Augenmerk auch auf das Werk von Sprachwissenschaftlern – wie beispielsweise auf jenes von Andreas Scheiner. Für einen, der in rast- und pausenloser Arbeit ein Refugium gefunden hatte, schien der Weggang, der möglicherweise zu einer beruflichen Umorientierung hätte führen können, kein Ausweg zu sein. Daher kam sein Entschluss für die Ausharrenden, anno 1990 nach Deutschland auszusiedeln, nun, da eine Professur an der wiederbelebten Hermannstädter Germanistik in greifbare Nähe gerückt war, die Reisebeschränkungen aufgehoben wurden und die Zensurzwänge entfielen, ziemlich überraschend. Wurde er von dem Massenexodus seiner Landsleute mitgerissen, sah er die Überlebenskraft der deutschen Minderheit in der angestammten Heimat schrumpfen, gab er dem Drängen seiner Familie nach oder hatte er dabei die Zukunft seiner beiden Söhne im Blick? Wie auch immer, das Glück des Tüchtigen begleitete ihn auch nach dem „Weltwechsel“.
Für mich zumindest war’s eine irrwitzige „Schicksalsfügung“, dass wir beide gleichermaßen Seit’ an Seit’ und jeder in seinen Gefilden in München das haben fortführen können, was wir im kommunistischen Rumänien unter ungleich ungünstigeren Bedingungen, aber in maßloser Selbstüberschätzung unserer Bedeutung betrieben haben. Seit über 16 Jahren tauschen wir uns in unmittelbarer Büro-Nachbarschaft und meist auf der gleichen Wellenlänge fachlich aus, und keine Meinungsverschiedenheit endete in unversöhnlichem Zorn. Was ich nun intensiver als bisher miterleben konnte, sind seine Umgänglichkeit und Geduld, seine soziale Kompetenz, seine Fähigkeit, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden, und nicht zuletzt seine sanfte Ironie und sein trockener Humor, die er in seinen von Sachlichkeit geprägten schriftlichen Äußerungen eher tarnt. Wenn ihm etwas auf die Nerven geht, so sind das realitätsblinde Wichtigtuerei und pfauenhaftes Geltungsbedürfnis. Mit untrüglichem Blick erkennt er sofort, wenn der Kaiser nackt ist.
In München war er infolge simultaner Anforderungen genötigt, seine „großen“ Projekte zurückzustellen. Priorität hatten Verlagstätigkeiten, das Redigieren von Typoskripten sonderbarster Qualität, die Teilnahme an Symposien und die Organisation internationaler Tagungen sowie die Herausgabe von Sammelbänden, wobei er unter Beweis stellte, dass er das schwierige Metier des Lektors aus dem Effeff beherrscht. Doch konnte Stefan Sienerth andererseits sowohl den geographischen als auch den Zeitraum seiner Untersuchungen ausweiten. Davon zeugen u. a. seine Beiträge über donauschwäbische Autoren und sein gründlich dokumentierter, 1997 veröffentlichter Interview-Band mit deutschen Schriftstellern aus Ostmittel- und Südosteuropa. Als Direktor ist er in die Rolle eines umsichtigen Wissenschaftsmanagers hineingewachsen und als Literaturwissenschaftler hat er sich zu einem der besten Kenner der multikulturellen und mehrsprachigen Kulturlandschaften von Czernowitz bis Neusatz gemausert.
Einen Monat vor seinem runden Geburtstag brachte der IKGS Verlag in zwei massiven Bänden eine Auswahl seiner Studien und Aufsätze zur Geschichte der deutschen Literatur und Sprachwissenschaft in Südosteuropa heraus. Sie belegen nicht nur eindrucksvoll die Spannweite und Mannigfaltigkeit, sondern auch die Kohärenz und Systematik seiner Darlegungen, sie veranschaulichen in ihrer Gesamtheit die ihm eigenen Umgangsformen mit den „Gegenständen“ seiner Abhandlungen, zeichnen sich durch Nachvollziehbarkeit seiner Beweisführungen, durch sachverständige Einarbeitung der Sekundärliteratur aus und halten einer Überprüfung der ausgebreiteten Fakten stand. Der Bogen spannt sich vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. Die Erhellung von Zusammenhängen und Hintergründen, von entstehungsgeschichtlichen Voraussetzungen und entwicklungshistorischen Besonderheiten sowie die Einbettung der Texte in Kontexte haben dabei Vorrang vor Analysen von Einzelwerken. Sein Interesse an neueren Theoriebildungen stand immer schon unter dem Fragehorizont, inwieweit sich deren Erkenntnisse bei der Beschreibung und Deutung regionaler Kulturen anwenden lassen. Stefan Sienerth erweist sich als ein Literaturforscher mit Bodenhaftung, dem spekulative Erörterungen, aber auch stilistisch-rhetorische Effekthascherei fern und fremd sind. Nicht Polarisierung und Zuspitzung, sondern Ausgewogenheit und historisierendes Verständnis sind Wesenszüge seiner differenzierten Betrachtungen und Kommentare, die sozialgeschichtliche und kulturhistorische Sichtweisen, Einblicke in die Spannungsfelder des literarischen Lebens mit ästhetischer Wertung verbinden.
„Für das Können“, formulierte Marie von Ebner-Eschenbach mit scharfsinniger Prägnanz, „gibt es nur einen Beweis: das Tun.“ Ein Aphorismus, der auf den 60 Jahre jungen Jubilar gleichsam zugeschliffen ist. Herzlichen Glückwunsch, Meister Stefan!
In den Feuilletonabteilungen der deutschen Zeitungen und Zeitschriften, in der Redaktion der Bukarester Monatschrift Neue Literatur kam es desgleichen zu einem Generationswechsel. Ebenso wie junge Autoren wurden auch angehende Literaturkritiker von den Printmedien intensiv gefördert – in jenen Jahren des Werdens und der Wahne, als die trügerische Hoffnung aufloderte, dass die Ära der Lügen und des Schreckens ihrem Ende entgegengleite. Diese Alterskohorte befürwortete nicht nur den Anschluss an die Formensprache der Moderne, sondern befreite auch die langjährig vergitterten kulturellen Traditionen zu neuem Leben und förderte Verschollenes und Vergessenes ans Tageslicht. Dass die jungen Akteure dabei unterschiedlich gewichtete Kompromisse einzugehen hatten, war ihnen bewusst, doch, gemessen an den extrem restriktiven 1950er Jahren, agierten sie unverkrampft, mitunter auch streitlustig und nutzten die Freiräume oft bis an deren Grenzen.
Dabei konnte es nicht ausbleiben, dass man auch miteinander polemisierte, Zweckbündnisse auf Zeit einging oder Freundschaften schloss, von denen einige zerbrachen, andere sich als korrosionsbeständig erwiesen. Und so schreiben denn aus heutiger Sicht gealterte Weggefährten anlassbedingt Freundliches über Freunde, die desgleichen in die Jahre gekommen sind, wobei gelegentlich das Prinzip der Gegenseitigkeit funktioniert – was sicherlich einer gewissen Komik nicht entbehrt. Auf Stefan Sienerths Wortmeldungen zu meinem 50. und 60. Geburtstag folgt nun eine ‚Replik‘, so schlecht, so gut ich’s eben kann.
Als Germanistikstudent in Klausenburg erspähte ich in der Bibliothek der Philologischen Fakultät immer mal wieder einen etwas jüngeren Kommilitonen, der, über Bücher gebeugt, eifrig exzerpierte, sich keine Verschnaufpause gönnte und auch länger als die meisten Leser hier ausharrte. Bislang hatte ich noch kein Wort mit ihm gewechselt, doch an einem Herbstabend des Jahres 1967 sprach ich ihn an und befragte ihn etwas überheblich über meinen Lieblingsdichter Rainer Maria Rilke und, siehe da, der Junge konnte sogar einige Frühverse des Pragers zitieren. Zu dem unstillbaren Nachholbedürfnis gesellte sich sehr bald auch sein Wunsch, Gelesenes und Erforschtes zu kommentieren. Als ich ein gutes Jahr später Redakteur der deutschen Seiten der dreisprachigen Klausenburger Studentenzeitschrift Echinox wurde, habe ich ihn als Mitarbeiter ‚angeheuert‘ und seine ersten Beiträge – u. a. einen Aufsatz über Else Lasker-Schüler – veröffentlicht. Zwischen uns hatte sich ein von jeglichem Misstrauen ungetrübtes Vertrauensverhältnis herausgebildet. Ich erinnere mich noch sehr wohl an einen Tag im Jahr 1978, an dem er Franz Hodjak und mir – mit einer von Furcht und Besorgnis gedämpften Stimme – über bislang vergebliche Anwerbungsversuche des Geheimdienstes Securitate erzählte. Franz und ich hatten diese Erfahrung einer Verweigerung ohne schwerwiegende Folgen schon gemacht und rieten auch ihm, weiterhin standhaft zu bleiben. Und fast 30 Jahre später, im Sommer 2007, saßen wir selbdritt in dem Lesesaal der 1999 gegründeten Behörde CNSAS in Bukarest, die Antragstellern die Einsicht in die eigene Securitate-Akte ermöglichte, und buchstabierten, erschüttert und erheitert, Hunderte von Seiten durch.
Ein Marathonläufer
Nach dem Abschluss des Studiums verblieb ich in Klausenburg, Stefan Sienerth ging 1971 als Hochschulassistent an das Pädagogische Institut in Neumarkt/Târgu-Mureș (1971-1974) und lehrte hier Deutsch als Fremdsprache bis 1974, als sich die Möglichkeit ergab, an den Germanistik-Lehrstuhl des Hochschulinstituts Hermannstadt hinüberzuwechseln. Damals hatte er sich bereits in ein Forschungsgebiet eingearbeitet, dem er eine hartnäckige Treue bewahren sollte: der siebenbürgisch-deutschen Literaturgeschichte. Zwar waren die Träume von einem Sozialismus mit menschlichem Gesicht unter dem allmählich wachsenden Druck einer nationalkommunistisch gewendeten Staatsideologie zerschellt, und die Zensur bereitete einem wachsende Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit, doch Stefan Sienerth hatte in der älteren Literatur ein Revier entdeckt, dessen Erkundungen zeitweilig weniger scharf beobachtet wurden.An der Uni vermittelte der beliebte Lehrer vorrangig ‚Kanonisches‘, bot u. a. Veranstaltungen über Methoden der Literaturwissenschaft, über die Frühromantik, den Vormärz und bürgerlichen Realismus, den Stilpluralismus um 1900, den deutschen modernen Roman an, lehrte aber auch schon ab 1978, dem Jahr, in dem er zum Dozenten befördert wurde, siebenbürgisch-deutsche Literaturgeschichte. Was ihn dazu bewogen hat, die historische Kulturlandschaft Siebenbürgen und die rumäniendeutsche Literatur der Zwischenkriegszeit zu durchstreifen und dabei unverhoffte Entdeckungen zu machen, war die sich auswachsende Überzeugung, infolge der für ihn geltenden Reiseverbote und der prekären Dokumentationsmöglichkeiten über die Autoren des „Zentrums“, nur bei der Durchforstung „regionaler“ Problemfelder neue Forschungsergebnisse erarbeiten zu können. 1979 promovierte Stefan Sienerth an der Universität Bukarest mit einer Arbeit über die siebenbürgisch-deutsche Lyrik um die Jahrhundertwende zum Dr. phil. – nachdem er sich durch einschlägige Publikationen als Hoffnungsträger der Zunft transsilvanischer Nachkriegs-Germanisten ausgewiesen hatte, deren produktivster Vertreter zu sein er heute in Anspruch nehmen darf. Mit einem ausgeprägten Gespür für das Machbare ausgestattet und von einem eitelkeitsfremden Ehrgeiz beflügelt, vergrub er sich in die Bestände der Brukenthal-Bibliothek und in die des Hermannstädter Staatsarchivs, erschloss Nachlässe, entzifferte geduldig alte Handschriften und musterte überlieferte Briefschaften. Ohne Berührungsängste, mit einer beneidenswert zupackenden Art, nahm er eine Menge von Publikationsangeboten an. Stefan Sienerth verfasste universitäre Lehrwerke, schrieb Studien, Aufsätze, Gedenkartikel, Rezensionen für wissenschaftliche und Publikumszeitschriften, für Wochenblätter, Tageszeitungen und Kalender. Er lieferte für drei im Teamwork erstellte Literaturgeschichten gattungshistorische Längs- und periodenbezogene Querschnitte, problemgeschichtliche Synopsen und Autorenporträts, edierte Gedichte von Georg Hoprich (1979), von Gerda Mieß (1987) und Werke von Hermann Klöß (1989).
Gleichzeitig konzentrierte er sich auf die Verwirklichung eigenständiger Projekte, einem „Marathonläufer“ vergleichbar: der Abfassung – im Alleingang – einer Geschichte des siebenbürgisch-deutschen Schrifttums und der Herausgabe von Texten dieser Literatur in ihrem historischen Wandel. In drei Büchern (1984, 1989 und 1990) bot er auch heute noch lesenswerte, gut gegliederte Überblicke von den Anfängen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts an, ihnen stellte er vier Lyrikanthologien (1978, 1980, 1982, 1986), die, ebenso wie seine Monographien, im Klausenburger Dacia Verlag erschienen, an die Seite. Durchaus im Sinne eines ererbten Rollenverständnisses bemühte er sich erfolgreich, Kontinuitätslinien nachzuzeichnen, Archive auszuwerten, die Erinnerung an das kulturelle „Erbe“ seiner Herkunftsgemeinschaft wach zu halten – in einer Zeit verordneten Vergessens.
Nach der Auflösung der Germanistik-Abteilung im Jahre 1986 wurde der Mundartsprecher Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Lexikographie am Forschungsinstitut für Sozial- und Geisteswissenschaften in Hermannstadt, wirkte als Koautor an mehreren Bänden des Siebenbürgisch-Sächsischen Wörterbuches mit und richtete sein Augenmerk auch auf das Werk von Sprachwissenschaftlern – wie beispielsweise auf jenes von Andreas Scheiner. Für einen, der in rast- und pausenloser Arbeit ein Refugium gefunden hatte, schien der Weggang, der möglicherweise zu einer beruflichen Umorientierung hätte führen können, kein Ausweg zu sein. Daher kam sein Entschluss für die Ausharrenden, anno 1990 nach Deutschland auszusiedeln, nun, da eine Professur an der wiederbelebten Hermannstädter Germanistik in greifbare Nähe gerückt war, die Reisebeschränkungen aufgehoben wurden und die Zensurzwänge entfielen, ziemlich überraschend. Wurde er von dem Massenexodus seiner Landsleute mitgerissen, sah er die Überlebenskraft der deutschen Minderheit in der angestammten Heimat schrumpfen, gab er dem Drängen seiner Familie nach oder hatte er dabei die Zukunft seiner beiden Söhne im Blick? Wie auch immer, das Glück des Tüchtigen begleitete ihn auch nach dem „Weltwechsel“.
Umsichtiger Wissenschaftsmanager
Stefan Sienerth ist angekommen im Land seiner Muttersprache und hat doch auch andererseits die Bindungen an seine Geburtsheimat sowie die Beschäftigung mit der Kultur und Literatur der Siebenbürger Sachsen, aber auch seine Lehrtätigkeit nicht aufgeben müssen. 1991 wurde er Projektmitarbeiter, ein Jahr später Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Südostdeutschen Kulturwerks, des Vorgängervereins des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der LMU München, als dessen Direktor er seit 2005 amtiert. Er ist Lehrbeauftragter der Universität München für Neuere deutsche und rumänische Literatur und hält regelmäßig Blockvorlesungen an der Universität Bukarest, die ihn 2002 mit einer Ehrenprofessur auszeichnete.Für mich zumindest war’s eine irrwitzige „Schicksalsfügung“, dass wir beide gleichermaßen Seit’ an Seit’ und jeder in seinen Gefilden in München das haben fortführen können, was wir im kommunistischen Rumänien unter ungleich ungünstigeren Bedingungen, aber in maßloser Selbstüberschätzung unserer Bedeutung betrieben haben. Seit über 16 Jahren tauschen wir uns in unmittelbarer Büro-Nachbarschaft und meist auf der gleichen Wellenlänge fachlich aus, und keine Meinungsverschiedenheit endete in unversöhnlichem Zorn. Was ich nun intensiver als bisher miterleben konnte, sind seine Umgänglichkeit und Geduld, seine soziale Kompetenz, seine Fähigkeit, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden, und nicht zuletzt seine sanfte Ironie und sein trockener Humor, die er in seinen von Sachlichkeit geprägten schriftlichen Äußerungen eher tarnt. Wenn ihm etwas auf die Nerven geht, so sind das realitätsblinde Wichtigtuerei und pfauenhaftes Geltungsbedürfnis. Mit untrüglichem Blick erkennt er sofort, wenn der Kaiser nackt ist.
In München war er infolge simultaner Anforderungen genötigt, seine „großen“ Projekte zurückzustellen. Priorität hatten Verlagstätigkeiten, das Redigieren von Typoskripten sonderbarster Qualität, die Teilnahme an Symposien und die Organisation internationaler Tagungen sowie die Herausgabe von Sammelbänden, wobei er unter Beweis stellte, dass er das schwierige Metier des Lektors aus dem Effeff beherrscht. Doch konnte Stefan Sienerth andererseits sowohl den geographischen als auch den Zeitraum seiner Untersuchungen ausweiten. Davon zeugen u. a. seine Beiträge über donauschwäbische Autoren und sein gründlich dokumentierter, 1997 veröffentlichter Interview-Band mit deutschen Schriftstellern aus Ostmittel- und Südosteuropa. Als Direktor ist er in die Rolle eines umsichtigen Wissenschaftsmanagers hineingewachsen und als Literaturwissenschaftler hat er sich zu einem der besten Kenner der multikulturellen und mehrsprachigen Kulturlandschaften von Czernowitz bis Neusatz gemausert.
Einen Monat vor seinem runden Geburtstag brachte der IKGS Verlag in zwei massiven Bänden eine Auswahl seiner Studien und Aufsätze zur Geschichte der deutschen Literatur und Sprachwissenschaft in Südosteuropa heraus. Sie belegen nicht nur eindrucksvoll die Spannweite und Mannigfaltigkeit, sondern auch die Kohärenz und Systematik seiner Darlegungen, sie veranschaulichen in ihrer Gesamtheit die ihm eigenen Umgangsformen mit den „Gegenständen“ seiner Abhandlungen, zeichnen sich durch Nachvollziehbarkeit seiner Beweisführungen, durch sachverständige Einarbeitung der Sekundärliteratur aus und halten einer Überprüfung der ausgebreiteten Fakten stand. Der Bogen spannt sich vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. Die Erhellung von Zusammenhängen und Hintergründen, von entstehungsgeschichtlichen Voraussetzungen und entwicklungshistorischen Besonderheiten sowie die Einbettung der Texte in Kontexte haben dabei Vorrang vor Analysen von Einzelwerken. Sein Interesse an neueren Theoriebildungen stand immer schon unter dem Fragehorizont, inwieweit sich deren Erkenntnisse bei der Beschreibung und Deutung regionaler Kulturen anwenden lassen. Stefan Sienerth erweist sich als ein Literaturforscher mit Bodenhaftung, dem spekulative Erörterungen, aber auch stilistisch-rhetorische Effekthascherei fern und fremd sind. Nicht Polarisierung und Zuspitzung, sondern Ausgewogenheit und historisierendes Verständnis sind Wesenszüge seiner differenzierten Betrachtungen und Kommentare, die sozialgeschichtliche und kulturhistorische Sichtweisen, Einblicke in die Spannungsfelder des literarischen Lebens mit ästhetischer Wertung verbinden.
„Für das Können“, formulierte Marie von Ebner-Eschenbach mit scharfsinniger Prägnanz, „gibt es nur einen Beweis: das Tun.“ Ein Aphorismus, der auf den 60 Jahre jungen Jubilar gleichsam zugeschliffen ist. Herzlichen Glückwunsch, Meister Stefan!
Peter Motzan
Schlagwörter: Kultur, Literaturgeschichte, Germanistik, IKGS
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