22. Dezember 2004

Unterwegs durch Siebenbürgen im Herbst 2004

Einer zentraler Gedanken beim Projekt „Nordsiebenbürgen-Buch“ (so lautete unser Arbeitstitel, erst wenige Monate vor seinem Erscheinen im Herbst 2004 legten die Autoren Alexandru Pintelei und Horst Göbbel den Titel „Wendepunkt in Nordsiebenbürgen“ fest) war seine Zweisprachigkeit (deutsch-rumänisch). Das Buch sollte nicht nur von Betroffenen und Interessierten im deutschsprachigen Raum, sondern – in besonderem Maße – auch von denjenigen Menschen gelesen werden können, die heute in den ehemals sächsischen Gemeinden Siebenbürgens leben. Damit „unsere Nachfolger“ das Buch wahrnehmen können, muss es in ihre Hände gelangen. Von Sonntag, den 31. Oktober, bis Donnerstag, den 4. November, verteilten Horst Göbbel (Nürnberg) und Michael Anders-Kraus (Wien) 300 Bücher in Siebenbürgen als Geschenk.
Wie verteilt man in Nordsiebenbürgen Buchgeschenke an Schulen, Bibliotheken, Rathäuser, Kirchengemeinden am Sonntagvormittag? Klar, nur der rumänische Pfarrer kommt in Frage. Und wo ist der zu finden? Ebenso klar, im Gottesdienst. Wie lange dauert ein orthodoxer Gottesdienst? Auch klar: mindestens zwei bis drei Stunden! Wie ist das Problem zu lösen? Das Geschenk muss während des Gottesdienstes überreicht werden. Spontan entsteht in Baierdorf folgendes Muster, das anschließend erfolgreich in Heidendorf, Schönbirk, Pintak und Wallendorf in die Tat umgesetzt wird: Ich setze mich in den Kirchenraum und bitte den Diakon in einer Gesangspause zu mir zu kommen, ich erläutere in wenigen Worten unser Anliegen, er geht zum Pfarrer Ion-Dumitru Pintea, dem ich dann die Bücher überreiche und unsere Empfangsbestätigung vorlege, er unterschreibt, Michael dokumentiert das Ganze mit Fotos, die uns begleitenden Kameraleute des Rumänischen Fernsehens machen ihre Aufnahmen und in weniger als einer halben Stunde sind wir auf der Fahrt zur nächsten Kirche. In Pintak bittet mich Pfarrer Alexandru Zahari, unsere Aktion der Gemeinde im Gottesdienst vorzustellen, in Wallendorf findet gerade eine Kindstaufe statt, der junge Emanuel Muresan erhält als Taufgeschenk ein Buch von uns.

Michael Anders-Kraus (Erster von links) und Horst Göbbel (Dritter von links) übergeben das Buch "Wendepunkt in Nordsiebenbürgen – Punct crucial in Ardealul de Nord" auf dem orthodoxen Friedhof in Treppen an jene Menschen, die heute in den ehemals sächsischen Gemeinden Siebenbürgens leben.
Michael Anders-Kraus (Erster von links) und Horst Göbbel (Dritter von links) übergeben das Buch "Wendepunkt in Nordsiebenbürgen – Punct crucial in Ardealul de Nord" auf dem orthodoxen Friedhof in Treppen an jene Menschen, die heute in den ehemals sächsischen Gemeinden Siebenbürgens leben.

Und was tut man am Nachmittag in Treppen bzw. am frühen Abend in Wermesch, wenn die rumänischen Pfarrer am Sonntag und Montag (Allerheiligen) im Friedhof sind und von Grab zu Grab schreiten, mit Angehörigen der Toten beten und singen? Klar, man geht auf den Friedhof, wird äußerst nett von den Menschen und Pfarrern empfangen, trinkt ein Gläschen mit, nimmt ein Stückchen Kuchen, überreicht das Geschenk Pfarrer Gheorghe Rus (in Treppen) und Simion Greab (in Wermesch) ebenso freudig wie Kuratorin Rozália Szekely auf dem ungarischen Friedhof in Tatsch und fährt weiter. Zum Beispiel zum sehr belesenen, hoch gebildeten Bürgermeister S. Teodor Pop in Lechnitz, mit dem ein politisches Gespräch auf höchstem Niveau stattfindet, das dann unbedingt auch mit ein wenig Feuerwasser begossen wird.

Es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, alle rumänischen Bürgermeister oder Pfarrer haben sich wirklich echt gefreut über das Geschenk. Aber diese Sorte von Menschen war die absolute Ausnahme.

In Jaad sagt die Schulleiterin Ana Capota: „Wissen Sie was, Herr Professor, wir rufen alle Kinder in den Hof, bilden ein Karree und Sie können ihnen allen und unseren Lehrkräften Ihr Buch und Ihr Projekt sofort vorstellen.“ Gesagt, getan. Mit großer Begeisterung und großem Erfolg. Die Blicke der Kinder sprechen Bände.

Bürgermeister Gavril Ursa, ein stämmiger, breitgesichtiger Hüne in Neudorf bei Bistritz bringt es nach wenigen klaren und ehrlichen Dankesworten mundartlich gefärbt auf den Punkt: „Am un singur regret: ca au plecat sasii de aici.“ („Ich bedauere nur eins: Dass die Sachsen von hier weggezogen sind!“) Dann lässt er – wie zahlreiche andere rumänische Dorfbürgermeister oder orthodoxe Popen – einen Schnaps („o tuica“) auf den Tisch stellen, ebenso einen Teller Kuchen, der aus dem Nachbarraum des Sekretärs aufgetrieben wurde. Leuchtende Blicke sind im Raum feststellbar, während Fotos „seiner“ Dörfer Neudorf, Burghalle, Petersdorf im Buch begutachtet werden.

In einwandfreier sächsischer Mundart bedankt sich Tutzi-Batschi (Farkas Bela Tuti), der Kurator der derzeit wohl stärksten evangelischen Dorfgemeinde Siebenbürgens in Weilau: „Ich bedanken mich hesch fur dät fain Geschink“ und fügt auf meine Einlassung, ob die Mehrheit der Gemeindeglieder in Weilau Roma, Sinti oder Zigeuner seien, hinzu: „Mir sei Zigun! Ond än der Kirich lirn mer och daitsch Lieder!“

Dienstag, 2. November. Es ist gerade dunkel geworden. Unser letzter Anlaufpunkt heute vor der in Sächsisch-Regen geplanten Übernachtung. Der junge orthodoxe Pfarrer in Botsch, O. Sabin Stoica, entschuldigt sich für die in seinen Augen amtsunwürdige Kleidung (er trägt ein helles T-Shirt, ist etwas verschwitzt, hat gerade eine Panne an seinem Auto repariert). Seine ins Amtszimmer gekommene Gattin bläst ins gleiche Horn. Den beiden äußerst überraschten Menschen versuche ich klar zu machen: „Unser Vater im Himmel erwartet von uns sicherlich nicht, jeden Augenblick für einen völlig unerwarteten Besuch aus Deutschland und Österreich vorbereitet zu sein. Er nimmt uns, er begleitet uns so, wie wir eben sind. Er gibt uns ein frohes, zufriedenes Gemüt und das haben wir bei euch, auch bei euch gefunden. Dafür danken wir.“

Mittwoch, 3. November, 15.40 Uhr. Rechts und links werden in einem Nebental der kleinen Kokel Maisstengel gesammelt und haufenweise angezündet. Die Sonne scheint warm – wie an den Tagen davor und danach – ungewöhnlich warm für den Monat November. Bis zu 25 Grad Celsius. Der Staub, eine dicke Schicht, hat sich überall im Wagen festgesetzt. Das eben besuchte sächsische, das unlängst noch sächsische Kleinod Zendersch mit dem verdutzten Schulleiter Viorel Neag liegt etwa 5 km hinter uns. Angesichts der unzähligen Schlaglöchern ist an ein Ausweichen nicht zu denken. Der Auspuff des weißen Golf mit Wiener Kennzeichen tönt nach einem erneuten kräftigen Schlag auf den letzten ca. 1200 km bis Wien (von insgesamt 2400 km auf dieser Tour) hörbar lauter. Michael Anders-Kraus, mein Freund und Fahrer in einmaliger Mission, bittet mich vor der Abzweigung nach dem verschlafenen Felldorf nachzusehen, ob von rechts ein Auto kommt. „Ja“, sage ich, „nächste Woche!“

Welch ein Unterschied! Trotz Streik ist im Rathaus von Hermannstadt viel los. Besonders im Bereich des Amtszimmers von Bürgermeister Klaus Johannis. Am Eingang: Wachposten „Zu wem wollen Sie?“ „Zum Bürgermeister Johannis“. „Haben Sie einen Termin?“ Michael, sehr bestimmt und deutlich: „Ja!“ „Um wie viel Uhr?“ Wir konsultieren unsere Uhr. Es ist genau 10.03 Uhr. „10 Uhr!“ und drin sind wir. Während der nächsten 40 Minuten, die wir im Vorzimmer mit der Sekretärin verbringen – sie ist sehr höflich, dienstbeflissen und wirkt sehr diszipliniert –, ist beim Bürgermeister einiges los. Dann der Empfang durch Klaus Johannis: sehr freundlich, zuvorkommend, liebenswürdig und keineswegs geschäftlich. Dennoch einer unter wohl vielen an diesem Tag in diesem Haus.

Anders im Bischofspalais anschließend. Hier scheint die Zeit eine deutliche Pause eingelegt zu haben. Auch die Beleuchtung im Hause ist etwas weniger intensiv. Hier spürt man die Gediegenheit der Jahrhunderte und einen gewissen Hauch von Musealität. Bischof D. Dr. Christoph Klein sagen wir Grüß Gott in einer Situation ohne jede Hektik, führen in aller Ruhe mit ihm ein wohltuendes Gespräch, überreichen unser Geschenk, gehen sachlich die Personen und Institutionen durch, die unbedingt damit bedacht werden sollen und sind dankbar, von einem hochrangigen, gebildeten und so feinfühligen Christen und Landsmann empfangen worden zu sein.

Michael am vorletzten Vormittag: „Horst, ich glaube, unser Herrgott liebt uns ein klein wenig.“ „Wie soll ich das verstehen?“ „Nun, als wir am Samstag (30. Oktober) in Wien losfuhren hat es einige Minuten leicht geregnet, aber das war alles. Seither haben wir bestes Wetter – Altweibersommer ist nichts dagegen. Für unsere Fahrt über Stock und Stein ist das Gold wert.“

Als ich am allerletzten Tag (am 5. November) im Zug von Wien über München nach Nürnberg den letzten Streckenabschnitt dieser denkwürdigen Reise bewältigte, beginnt es kurz vor 8.00 Uhr bei Ingolstadt zu regnen. Da haben wir aber unsere Aufgabe, 300 Buchgeschenke des Bandes „Wendepunkt in Nordsiebenbürgen“ von Alexandru Pintelei und Horst Göbbel an unsere rumänischen, ungarischen und zigeunerischen Nachfolger und zum geringen Teil auch an unsere noch in Siebenbürgen lebenden Landsleute in Schulen, Rathäusern, Kirchengemeinden in 55 Orten zu verteilen, längst in trockenen Tüchern. Danke Misch! Ich kann mir niemanden vorstellen, der geeigneter gewesen wäre, diese Fahrt mit mir zu bestreiten. Ein optimaler Partner für diese Unternehmung wie kein Zweiter. Danke dem Sozialwerk der Siebenbürger Sachsen in München für die Förderung dieses Vorhabens.

Horst Göbbel

(gedruckte Ausgabe: Siebenbürgische Zeitung, Folge 19 vom 30. November 2004, Seite 5)

Rezension des Buches "Wendepunkt in Nordsiebenbürgen - Punct crucial in Ardealul de Nord", Siebenbürgische Zeitung Online, 23. November 2003

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