Mrrrrrr

Immer, wenn ich am Ziehbrunnen aus der Nuaguass (Neugasse) vorbei gehe, muss ich mir beim Lachen die Hand vor den Mund legen, damit Vorbeigehende nicht den Eindruck erhalten, ich sei nicht mehr ganz dicht. Und, wenn ich dir erzähle, was sich da zugetragen hat, dann wirst du erstmals frieren und dann Gleiches tun, wie ich, denn das ist eine verrückte Sache, die sich da abgespielt hat.

Eines Winters war es besonders kalt. Schnee gab`s zwar nicht viel, aber die Kälte war klirrend. Tagsüber schien die Sonne "mit Zähnen", was allerdings nicht bedeuten sollte, dass man sich auch hätte sonnen können. Nein, sie war oft von einem peitschenden Wind begleitet, sodass der Eindruck entstand, es sei um einige Grad noch kälter. Du kennst doch bestimmt das zigeunerische Sprichwort: `Es kann so kalt wie nur möglich sein, aber wehe, wenn dazu auch noch der Wind weht.` Daran ist was Wahres dran.

Zu der Zeit war ich noch ein Kind und kann mich erinnern, dass wir beim Wasserholen vom Ziehbrunnen immer sehr gut aufpassen mussten, denn durch das ständige Verschütten vom Brunnen in den eigenen Eimer hatte sich rings um die Erdöffnung eine beträchtliche Eisschicht gebildet, auf der man leicht auf die Schnauze hätte fallen können, oder sogar... , aber das kommt ja noch alles.

Beim Neugassendick - nicht mit seinem "Ziehvater", dem wahren Dick, zu verwechseln - hatten sich viele Jugendliche versammelt, um den Sprung ins neue Jahr zu feiern. Seine Eltern hatten die ganze Wohnung den Heranwachsenden frei gegeben und waren zu Besuch bei Bekannten, wo natürlich auch gefeiert wurde, nur halt mit einer etwas älteren Generation.

Die Sause wurde immer bunter, die Musik immer lauter und das Gedröhne der männlichen Anwesenden immer unerträglicher. Man tanzte, rauchte und soff was das Zeug hielt. Sogar einige der Mädchen sollen einen Schwips gehabt haben, für die Zeit bestimmt nichts Selbstverständliches - im Unterschied zu unserer Zeit, in der uns das schwache Geschlecht in solchen Sachen ja fast übertrifft... Da mach` ich mir ehrlich schon meine Gedanken, wie es mit unserer Zukunft bestellt ist, denn auch der Respekt uns, den älteren Jahrgängen, gegenüber lässt immer mehr zu wünschen übrig. Aber nun zurück zum Ort des Geschehens:

Unter den Feiernden befand sich auch der Niculiţă vom Cătran. Während sich die Anderen amüsierten, die hübschen Ladys - oder, wie man das heute auch immer sagt - knutschten und sonst noch für Blödsinne anstellten, saß er still - wie immer - hinter dem Tisch und kippte den Inhalt des einen oder anderen Glases in sich hinein, denn das war seine echte Liebe, nicht die Mädels.

Da der Schluckspecht Hochprozentigen bevorzugte, kriegte er irgendwann in der Nacht einen Halsbrand innerer Natur und versuchte ihn mit Wasser zu löschen. Deshalb begab er sich in die Küche, um sein Anliegen zu befrieden, hatte jedoch Pech, denn das dämpfende Nass war alle. So blieb ihm nichts anders übrig, als sich auf die Straße zu trauen und sein Problem mit Hilfe des Ziehbrunnens zu bewältigen.

Wie üblich, ließ er den Eimer hinein, um ihn dann samt Inhalt nach oben zu ziehen. Als er sich nun bückte, um das Wasser in den hergebrachten Eimer zu schütten, rutschte er auf dem glatten Eis aus und fiel kopfüber in den Brunnen.

Vergebens unternahm der mehr als Angetrunkene wiederholte Versuche, seinem neuen Gefängnis zu entkommen; zum Einen war das Erdloch über sechs Meter tief zum Anderen war er auch zu stark alkoholisiert. Er schrie, was das Zeug hielt, aber zu der Uhrzeit war die Straße menschenleer und die Fenster der Häuser verbarrikadiert, denn es war bitterkalt, dass Einem fast die Spucke im Mund gefror.

Eigentlich war dies der sichere Tod, wäre nicht nach einigen Minuten die Machlangermaun zum Brunnen gekommen. Die alte Frau veranlasste die gleiche Prozedur, doch der Eimer wollte nicht nach oben kommen. Sie fasste Mut und beugte sich über die Wasserquelle, um das Rätsel zu lösen.
Da Vollmond war, erkannte sie zwei Arme, die sich am Kübel festhielten. Daneben erschien schwammhaft ein Kopf, aus dessen Mund wiederholt ein "Mrrrrrr" zu vernehmen war. Die Bäuerin erschrak bei diesem Anblick dermaßen, dass sie auch fast dem ungewollten "Schwimmer" gefolgt wäre. Mit letzter Kraft raffte sie sich auf und lief so schnell sie nur konnte in das Haus, aus dem die vielen Geräusche kamen.

Auf der Türschwelle angelangt, schöpfte sie tief Luft, konnte jedoch eine Zeit lang keinen Ton herausbringen.
Die Anwesenden merkten, dass da etwas passiert war und stellten die Musik ein, um zu hören, was da vor sich ging. Dann kam es aus der Betagten endlich heraus:
`Kommt alle schnell zum Brunnen! Ich glaube, da ist ein Gespenst, dass mich immer wieder anknurrt. Klingt wie Hundelaute, aber es scheint doch was ganz anderes zu sein. Womöglich ist es auch der Unreine (Teufel), ich weiß es nicht, also kommt, kommt!`

Die Meute erkannte den Ernst der Lage, stülpte sich irgend ein Kleidungsstück über und rannte zum besagten Ort. Inzwischen war das "Mrrrrr" bedeutend leiser geworden. Es klang so, als sei ein Hund in seinen letzten Zügen.
Schnell wurde klar, um wen es sich handelte und der sich zwischen dem Dies- und Jenseits Befindliche mit vereinten Kräften herausgezogen, ins Haus transportiert, von seinen Klamotten befreit und unter drei dicke Decken ins Bett verfrachtet.

Man mag es kaum glauben: Nach nichtmal einer Stunde saß der "Neugeborene" schon wieder am Tisch und genoss die Köstlichkeiten flüssiger Natur.

Bleibt noch die Frage nach dem "Mrrrrrr". Ja, mein Lieber, auch die wurde gelöst: Niculiţă wollte zum Ausdruck bringen, dass er im Sterben lag und das heißt nun mal auf Rumänisch "Mor". Natürlich konnte er durch das furchtbare Bibbern - auch im Brunnen gab`s keine Sommertemperaturen... - kein "O" mehr aussprechen, was die falsche Deutung seiner Andeutung erklärt.

Anmerkung des Aufzeichners: Als Kinder haben wir dem Niculiţă oft das "Mrrrrr" entgegen geschrien. Zu der Zeit war er schon alt. Manchmal drehte er sich um und beschimpfte uns böse - genau das, was wir wollten -, aber meist tat er so, als würde er unsere Provokationen überhören. Er war zwar schon ein gebrochener Mann, aber der Hochprozentige blieb bis zu seinem Lebensende sein bester Freund.

Aus "Zwischen drei Welten" von Walter Georg Kauntz

Erzählt vom Riepemisch

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