Die ihre Gefühle spalten

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Asterix
schrieb am 09.08.2011, 00:52 Uhr
Manchen Opfern von Vergewaltigungen oder Folter sagt man nach, dass sie sich in den Momenten größter Pein an einen schützenden Ort in ihrem Inneren retten, von dem aus sie dem Geschehen wie ein Unbeteiligter zuschauen können, ohne dass es sie berührt. Experten nennen diesen Zustand „Dissoziation“, das Abspalten des Selbst von Teilen des Erlebens und der Erinnerung. Wie man inzwischen weiß, ist Dissoziation ein Bewusstseinszustand, den nicht nur Traumatisierte kennen. Es ist normal, sich von Zeit zu Zeit ein wenig „auszuklinken“. Nicht immer ist der Strom des Bewusstseins fest umfangen vom Flussbett des Alltags; bisweilen driftet er ab in Tagträumereien: „Ich bin dann mal weg – du findest mich in meiner Fantasiewelt nebenan.“

Dissoziation ist ein Kontinuum. Das fängt an bei kurzen, harmlosen Absenzen, wie sie wohl jeder kennt: Man ist während der Autofahrt so in Gedanken versunken, dass man sich plötzlich am Ziel wiederfindet, ohne klare Erinnerung an die Fahrt. Und es reicht bis hin zu schweren Entfremdungszuständen: Man schaut in den Spiegel und empfindet keinerlei Vertrautheit und Übereinstimmung mit der Person, die einem dort entgegenblickt.

Mit speziellen Fragebögen, die solche Zustände abfragen, stellten Forscher fest, dass Menschen in unterschiedlichem Maß zu dissoziativem Erleben neigen: Dissoziation ist ein Persönlichkeitsmerkmal, und genau wie andere Charakterzüge wird es etwa zur Hälfte von den Genen bestimmt. Dissoziative Menschen gelten als fantasiebegabt, aber auch als anfällig gegenüber Suggestionen, und die meisten haben offenbar ein niedriges Selbstwertgefühl. Ansonsten ist über die Alltagsseite dieser Temperamentseigenschaft – diesseits von pathologischen Symptomen nach schweren Traumata – bislang wenig bekannt.

Die amerikanischen Psychologen Angelina Sutin vom National Institute on Aging und Gary Stockdale von der University of California sind nun in einer Doppelstudie der Frage nachgegangen, wie Personen, die stark zur Dissoziation neigen, mit gefühlsbeladenen autobiografischen Schlüsselerlebnissen umgehen. Solche Lebenserinnerungen gelten als „Bausteine des Selbst“: Über sie definieren wir uns, aus ihnen schneidern wir unser Selbstbild, unsere Identität. Die beiden Forscher stellten fest, dass dissoziative Menschen zwar durchaus emotionale Erinnerungen, vor allem aus ihrer Kindheit, hatten. Doch diese Gefühle waren widersprüchlich, und sie standen nicht recht in Verbindung zum augenblicklichen Erleben, zum Hier-und-Jetzt.

Sutin und Stockdale baten zweimal jeweils rund 400 Studentinnen und Studenten ins Labor und ermittelten per Fragebogen ihre Neigung zur Dissoziation. Dann wurden die Teilnehmer gebeten, drei bis vier Erinnerungen an Erlebnisse niederzuschreiben, die ihnen sehr bedeutsam für ihre Identität schienen und an die sie häufig zurückdachten. Gefragt waren explizit positive und explizit negative Erlebnisse, und zwar: erstens aus ihrem akademischen Umfeld an der Uni; zweitens aus ihrer Kindheit, die Beziehung zu den Eltern betreffend; drittens aus einer Liebesbeziehung. Zum Vergleich sollten die Probanden auch noch über ein neutrales wichtiges Erlebnis schreiben. Anschließend notierten sie anhand von Auswahllisten, welche Gefühle und Motive sie bei der jeweiligen Erinnerung beschlichen hatten.

Dabei offenbarten jene Teilnehmer, die stark zu dissoziativem Erleben neigten, ein erstaunliches Muster: Zwar waren ihre Erinnerungen nicht weniger emotional als die der anderen Probanden; was die Kindheit betraf, waren ihre Erlebnisse sogar überdurchschnittlich gefühlsbeladen. Doch fiel auf, dass die Gefühle beim Erinnern (also heute) nur bedingt zu den Gefühlen in der Erinnerung (also damals) passten: Verglichen mit den anderen Probanden, zeigten „Dissoziierer“ mehr positive Gefühle beim Erinnern an negative Erlebnisse und mehr negative Gefühle beim Erinnern positiver Erlebnisse.

Die Forscher erklären dieses affektive Kuddelmuddel damit, dass diese Menschen ihre selbstbezogenen Gefühle weniger stark integrieren und „auf Linie bringen“: Bei der Erinnerung an ein Schlüsselerlebnis aus ihrem Leben stimmt sie manches froh und stolz, anderes traurig und wütend; sie basteln keine kohärente Geschichte von Glück oder Enttäuschung daraus. Auch die Motive, die ihnen beim Erinnern durch den Kopf gingen, waren widersprüchlich: Sie sehnten sich einerseits nach Macht und Kontrolle über andere, wollten ihnen aber gleichzeitig nahe sein. Ihre Gefühlshaltung gegenüber wichtigen Personen aus ihrem Leben bestand aus einer Mischung von Überheblichkeit und Scham.

http://www.psychologie-heute.de/aktuelles-online/emotion-kognition/detailansicht/news/die_ihre_gefuehle_spalten-1/

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