Wenn die Gedanken auf Reisen gehen

Um Beiträge zu verfassen, müssen Sie sich kostenlos registrieren bzw. einloggen.

Asterix
schrieb am 09.08.2011, 00:43 Uhr
Manchmal wünscht man sich, man könnte sein Hirn ganz einfach abschalten. Wie schön müsste das sein, wenn das Mühlrad der Gedanken endlich einmal zur Ruhe käme, wenn der wundgescheuerte Geist sich in wohligem Nichtstun regenerieren könnte. Doch der Mensch scheint für solcherlei Gedankenlosigkeit nicht geschaffen zu sein. Zwar verbringen wir große Teile des Tages mit Tagträumereien. Doch gerade in diesen vermeintlichen Ruhephasen ist unser Denkapparat sehr aktiv: Wir geraten dann ins Grübeln – und dieser Zustand macht uns offenbar nicht allzu glücklich.

Zwei Psychologen der Harvard-Universität in Boston sind jetzt systematisch der Frage nachgegangen, wie oft am Tag wir unsere Gedanken schweifen lassen und wie wir uns dabei fühlen. Matthew Killingsworth und Daniel Gilbert rekrutierten für ihren Feldversuch 2250 Freiwillige beiderlei Geschlechts im Alter zwischen 18 und 88 Jahren. Die Teilnehmer gingen ihren ganz normalen Alltagsaktivitäten nach, wurden dabei jedoch in unregelmäßigen Abständen von den Versuchsleitern via Mobiltelefon kontaktiert. Dann mussten sie auf dem Display ankreuzen, was sie gerade taten, wie angenehm oder unangenehm sie diese Tätigkeit fanden und wie glücklich oder unglücklich sie sich dabei fühlten. Auf diese Weise sammelten die Forscher 250.000 Momentaufnahmen.

Wie sich herausstellte, verbrachten die Probanden sage und schreibe 47 Prozent ihres Wachlebens mit Tagträumereien. Selbst wenn sie aktiv einer Beschäftigung nachgingen und zum Beispiel am Computer arbeiteten oder das Geschirr abräumten, schweiften die Gedanken zwischendurch immer wieder ab. In einem knappen Drittel der Zeit dachten sie dann über irgendetwas nach, das nichts mit dem zu tun hatte, was sie gerade taten. Entweder ließen sie im Geiste eine Begebenheit aus der Vergangenheit noch einmal Revue passieren, oder sie richteten ihre Gedanken auf ein erwartetes Ereignis in der Zukunft – oder sie spielten ein gänzlich fiktives Geschehen durch, das sich weder ereignet hatte noch je ereignen würde.

Wie sich herausstellte, stimmten solche Gedankenreisen die Probanden selten froh: Je mehr sie im Schnitt grübelten, desto unglücklicher fühlten sie sich. Am glücklichsten waren die Leute, wenn sie Sex hatten, Sport trieben oder sich angeregt mit anderen unterhielten. Am wenigsten glücklich waren sie bei der Arbeit, beim Herumdaddeln am Computer – oder eben in „Ruhe“-Phasen, in denen ihr Geist sich selbst überlassen war.

„Viele philosophische und religiöse Traditionen lehren, dass Glück zu finden ist, indem man im Augenblick lebt, und die Übenden trainieren, dem Gedankenwandern zu widerstehen und im Hier und Jetzt zu sein.“ Diese Lehren lägen mit ihrer Einstellung offenbar richtig, schreiben Killingsworth und Gilbert im Fachmagazin Science. Ihr Fazit: „Ein umherschweifender Geist ist ein unglücklicher Geist.“

Andere Wissenschaftler sehen das nicht so kritisch. Die Neuropsychologin Kalina Christoff von der University of British Colombia forderte ihre Probanden auf, einfach dazuliegen und nichts zu tun, während die Forscherin mithilfe eines Hirnscannners beobachtete, was dabei in deren Kopf vorging. Auch Christoff stellte fest, dass das Gehirn in solchen Ruhephasen keineswegs abschaltet. Vielmehr wird ein weitverzweigtes Basisnetzwerk (default network) aktiv: Das Gehirn nutzt die freie Zeit, um über Vergangenes und Zukünftiges nachzudenken, um zu planen und Bilanz zu ziehen. Kalina Christoff sieht darin nichts Negatives: „Womöglich nutzt unser Geist diese Zeit, um bedeutsamen Fragen in unserem Leben nachzugehen.“

Forscherteams fanden Hinweise, dass das selbstreferenzielle Basisnetzwerk des Gehirns, das sich in Ruhepausen immer wieder einschaltet und uns zum Grübeln veranlasst, möglicherweise eine wichtige Funktion erfüllt. Fällt es aus dem Takt, so könnte dies womöglich gar ein Hinweis auf eine beginnende Alzheimererkrankung oder eine Schizophrenie sein.

Von Thomas Saum-Aldehoff

Mehr zum hochaktiven „Ruhe“-Netzwerk des Gehirns und seinen Tagträumereien finden Sie in der Januarausgabe 2011 von Psychologie Heute.

Quelle: idw, Psychologie Heute 1/2011
http://www.psychologie-heute.de/aktuelles-online/emotion-kognition/detailansicht/news/wenn_die_gedanken_auf_reisen_gehen-1/

Um Beiträge zu verfassen, müssen Sie sich kostenlos registrieren bzw. einloggen.