erstellt am 23.08.2005 um 09:58 Uhr
Nachfolgenden Artikel fand ich in der Onlineausgabe der "Hermannstädter Zeitung"95 Prozent der Deutschen profitierten von Hitlers Rassenkrieg, so die These des Berliner Historikers Götz Aly / Auch das Vermögen der rumänischen Juden floß in deutsche Taschen
Wieso konnten die Deutschen unter Hitler den beispiellosen Massenmord an den europäischen Juden zulassen und begehen? Diese Frage beschäftigt die Geschichtsschreibung zwar schon seit Jahrzehnten, ist aber offenbar keineswegs erschöpfend beantwortet worden. Denn noch immer gibt es Antworten, die nicht nur nachkommende Generationen oder ahnungslose Laien überraschen, sondern auch die Fachwelt in Aufregung versetzen. Das jüngste Beispiel ist „Hitlers Volksstaat“* von Götz Aly, ein Buch, das – im März diesen Jahres erschienen – sich zum Bestseller der Saison entwickelt und in Deutschland einen ausgewachsenen Historikerstreit losgetreten hat.
Was ist das Aufregende an diesem Buch? Es ist die These, daß sich Hitler die Gunst des deutschen Volkes buchstäblich erkaufte - durch soziale Wohltaten aller Art. Mehr noch: daß Hitler den Deutschen quasi den Wohlfahrtsstaat gebracht hat. Er war es, der die Krankenversicherung für Rentner einführte, die Steuerfreiheit für Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit, den Urlaub für die deutschen Arbeiter samt Urlaubsgeld. Im Krieg erhielten die Soldatenfrauen bis zu 85 Prozent des letzten Nettolohns ihrer Männer ausgezahlt usw. usf. Durch opulente Staatsfürsorge einerseits und exemplarische Gewalt gegen sogenannte Volksschädlinge andererseits wurden die Deutschen – so Aly – „ruhig und nicht selten bei Laune“ gehalten. Nicht nur ein paar NS-Funktionäre waren die Profiteure des NS-Regimes, sondern 95 Prozent der Bevölkerung. Die Deutschen – ein Volk von Vorteilsnehmern, bestechlich und korrumpierbar bis zur Duldung von Massenmord und Vernichtungskrieg? Eine provokative These. Doch der Historiker, dessen Vater selbst ein NS-Funktionär war, geht noch weiter und behauptet, daß Hitler die Volksseele schmierte, nicht nur um sie für seine Massenmorde an den Juden und seine Raubkriege zu gewinnen, sondern vor allem umgekehrt: „Die Sorge um das Volkswohl der Deutschen“ sei „die entscheidende Triebkraft“ gewesen für Hitlers „Politik des Terrorisierens, Versklavens und Ausrottens“. Hitlers Rassenlehre sei zu jenem Zeitpunkt für die Deutschen die außerordentlich mobilisierende „konkrete Utopie“ einer klassenlosen glücklichen Volksgemeinschaft gewesen. Für diese These hat Aly von etablierten Historikern reichlich Prügel bezogen. Die Vorwürfe reichen von „engstirniger Materialismus“ bis „Infragestellen des Sozialstaates“ oder gar „unseriös“.
In den Talkshows, zu denen der streitbare Autor immer häufiger eingeladen wird, kommt unweigerlich die Frage, ob er sich nicht vor dem Beifall von falscher Seite fürchte. War Hitler also doch gar nicht so schlecht gewesen? Aly, selbst ein Achtundsechziger mit linksradikaler Vergangenheit, schert sich wenig um politische Corectness. Die Historikerzunft habe bisher kein Deutungsmuster für Hitlers Erfolg anbieten können, die mit den persönlichen Erfahrungen der Erlebnisgeneration, mit den vielen Tagebuchaufzeichnungen und Briefen aus jener Zeit in Einklang zu bringen sei.
Aly zitiert häufig den Soldaten Heinrich Böll, der seiner Mutter von der französischen Front fleißig Butter, Kaffee und Seife schickte und in den Heimaturlaub nach Köln auch mal „ein halbes Schweinchen“ mitbrachte. Alys Verdienst liegt aber vor allem darin, durch akribische finanzwirtschaftliche Recherche das System aufgedeckt zu haben, wie Hitlers „Gefälligkeitsdiktatur“ funktionierte und wie die Mittel dafür aufgebracht wurden. Für die Finanzierung des „nationalen Sozialismus“ wurden zuerst die Juden im Inland ausgeraubt und „eliminiert“, daraufhin wurden die europäischen Länder – ob verbündet oder besetzt – systematisch ausgeweidet. Hitler konnte sich auf die routinierte Professionalität der deutschen Banker und Beamten verlassen. Sie bedienten sich einer diskreten, „geräuschlosen“ Methode, die Währungen und die Wirtschft der fremden Länder im Interesse der Deutschen zu ruinieren. Ein Beispiel: Die Besatzer requirierten nicht, sondern sie bezahlten die benötigten Lebensmittel und Sachgüter, allerdings mit den sogenannten Reichskreditkassenscheinen (RKK), und zwangen die jeweilige Nationalbank, diese gegen die nationale Währung zu einem vorteilhaften Kurs einzutauschen. Die nationale Bank führte das deutsche Papiergeld am Ende an die Reichsbank ab, bekam aber nichts dafür. Damit waren die Kosten der Besatzung und des Krieges anonymisiert, auf das jeweilige Land abgewälzt, ohne daß die Deutschen ihr „anständiges“ korrektes Image gleich verloren. Mehr noch, sie berieten die solcherart Geschädigten, ihre Kassen durch den Raub an einem Dritten – den Juden nämlich – wieder anzufüllen. Dann erhöhten sie die Kontributionen und schöpften auch diese Gelder ab. In einem Rumänien gewidmeten Kapitel weist Aly anhand bisher teils unausgewerteter deutscher Quellen nach (Archiv der Reichsbank, Militärarchiv), daß das System auch im verbündeten Balkanland funktionierte und bereits 1941 gut 41 Prozent des romanisierten jüdischen Eigentums „in deutsche Kassen und Taschen“ geflossen war. (Annemarie WEBER)
Hermannstädter Zeitung Nr. 1942/19. August 2005