30. April 2024

Vespern – bescheidener Genuss am Nachmittag/Erzählung von Annemarie Roth

Annemarie Roth, geboren 1958 in Marienburg bei Schäßburg, begann während der Coronazeit Erzählungen zu schreiben, die in Siebenbürgen spielen und eine Mischung aus realen Begebenheiten und Fiktion sind. Die Geschichte „Vespern – bescheidener Genuss am Nachmittag“ ist ihre dritte literarische Veröffentlichung in der SbZ Online.
Die Autorin Annemarie Roth ...
Die Autorin Annemarie Roth
In meiner Kindheit, so vor 60 Jahren, war der Alltag nur sehr wenig mit dem der heutigen Kinder zu vergleichen. Wir lebten in einem kleinen Dorf mit etwa 800 Einwohnern, bestehend aus drei Nationalitäten, in der überwiegenden Mehrzahl Siebenbürger Sachsen, deren Vorfahren das Dorf auch aufgebaut hatten und die die Hauptstraße – die Große Gasse – bewohnten, Rumänen, die sich nach dem 2. Weltkrieg allmählich im Dorf niederließen und die hauptsächlich „auf dem Berg“, also in Nebenstraßen auf einer Anhöhe, wohnten, und drei Familien Ungarn, die sich mehr oder weniger zu uns verirrt hatten. In anderen Dörfern waren sie zahlenmäßig stärker vertreten.

Ich bedauerte, dass es so wenige bei uns waren, sie fast außerhalb wohnten und ich keinen Kontakt zu ihren Kindern hatte. Es wäre die Gelegenheit gewesen, spielerisch auch Ungarisch zu lernen. Manchmal schlich ich mich an ihren Häusern vorbei und horchte, klang diese Sprache doch so schön und so anders als das, was ich kannte. Außerdem hätte ich so gerne etwas verstanden, traute mich aber nicht hineinzugehen. Wenn sie mich nun nicht hereinließen? Sie waren mir fremd.

Meine Kusine hatte das Glück, mit ungarischen Kindern befreundet zu sein und war um eine Sprache reicher. Bis heute fühle ich mich ausgeschlossen, wenn sie mit inzwischen auch ungarischen Verwandten drauflos spricht.

Da bei uns, wie erwähnt, mehrere Nationalitäten lebten, war es ganz natürlich, dass wir Kinder miteinander spielten und so auch die Sprache des jeweils anderen lernten, aber auch viel von den Bräuchen und Sitten des anderen mitbekamen.

Als Kleinkind konnte ich nur unser Siebenbürgisch-Sächsisch – es erinnert sehr ans Luxemburgische und man kann sich verständigen –, wobei uns Märchen aus einem dicken, wunderschön bunt illustrierten Grimms Märchenbuch in deutscher Sprache vorgelesen wurden.

Wir sprachen die deutsche Sprache aber nur selten, mit unserem Pfarrer nach der deutschen Messe oder mit Verwandten aus Deutschland. Erst mit Beginn der Schule lernten wir Deutsch sprechen, da wir zu der Zeit noch deutsche Schulen hatten. Rumänisch lernte ich schon sehr früh von den Kindern auf der Straße.

Außerdem hatten wir eine rumänische Krankenschwester (tanti moasa) im Dorf – einen Arzt gab es keinen –, die sich liebevoll um uns kümmerte, wenn wir krank waren. Sie kam zu den Leuten nach Hause, und im Verabreichen von Spritzen war sie eine Wucht. Sie nahm einem äußerst einfühlsam die Angst, sodass man gar nichts spürte vom gefürchteten Piks. Außerdem war sie rundlich, hatte immer warme weiche Hände und roch gut nach Kernseife. Ihre Stimme war sanft und leise und voll von einem melodischen beruhigenden Singsang.

Wir Kinder verbrachten die meiste Zeit draußen, im Hof und Garten und auf der Gasse, wobei sich unser Spielradius mit zunehmendem Alter erweiterte und wir fast das ganze Dorf als Spielstätte nutzten. Die Eltern oder Großeltern, je nachdem, wer zu Hause war, wollten nur wissen, wohin wir gingen und mit wem. Mittags musste man zum Essen kommen, nachmittags um 4 Uhr zur Vesper und abends zwischen 6 und 7 Uhr kehrten wir endgültig für den Tag nach Hause zurück.

Es kam schon vor, dass wir auch Tage bei uns zu Hause verbrachten, aber irgendwo draußen. Da der Hof und der Garten – Gemüse- und Obstgarten – sehr groß waren, aus zwei Wohnhäusern und Scheunen und Ställen bestanden, hatten wir viele Spielorte, und die Erwachsenen mussten schon laut rufen, um uns ausfindig zu machen. Große Sorgen, dass uns was passieren könnte, machten sich die Eltern nicht, es gab überall im Dorf auch Erwachsene und man verließ sich aufeinander, hatte man, was Kinder und ihre Aufzucht anbelangte, dieselben Ansichten.

Eine ziemlich klare Erinnerung habe ich an zwei Arten von Vesper, die auch von den Erwachsenen eingenommen wurde.

Unser Großvater arbeitete tagsüber in den Gärten und kam gegen 4 Uhr ins Haus zum besagten Vespern. Meistens aß er Speck mit Brot und Tomaten oder sonstiges Gemüse, das er aus dem Garten mitbrachte, es konnten Gurken oder Rettich sein. Dazu trank er mit Wasser verdünnten selbstgemachten Weißwein, den er immer in einem irdenen Krug, mit einem Deckel drauf, auf dem Küchentisch stehen hatte. Spielten wir im Hof, war es selbstverständlich, dass er uns zum Vespern versorgte. Oft machte er uns Kindern Husaren. Das waren kleine Brotstückchen mit einem Stück Speck und einem Gemüsestückchen drauf, die er in Reih und Glied aufstellte, eben wie Husaren.

Wir standen jedes Mal am Tisch und beobachteten gespannt, wie er eine Kompanie zusammenstellte, eine für mich und eine für meinen Bruder oder für meine Kusine oder Freundin, je nachdem, wer von den Kindern da war. Es entstand ein Kunstwerk auf dem Küchentisch und während er dies erschuf, steckte er sich zwischendurch Brot und Speck in den Mund und trank genüsslich von seinem verdünnten Wein. Das weiß ich noch, weil er immer mit vollem Mund schmatzend sprach und wir nicht immer so genau verstehen konnten, was er uns lang und breit über die Geschichte der Husaren und deren Kampfkunst erzählte.

Wahrscheinlich lag es nicht nur an seinem vollen Mund und seiner dadurch undeutlichen Aussprache, dass wir nicht alles verstanden. Es mag durchaus auch die für uns Kinder zu komplizierte Geschichte gewesen sein. Wir waren schließlich keine 10 Jahre alt.

Auf jeden Fall war es für uns ein zwar immer wiederkehrendes und doch jedes Mal einmaliges Erlebnis, unsere Husarenregimenter entstehen zu sehen und nicht weniger angenehm und schmackhaft sie zu verspeisen. Dies erfolgte allerdings nicht am Tisch sitzend.

Wir huschten zwischen Küche und Hof immer wieder hin und her und holten uns nach und nach unsere Husaren, bis alles aufgegessen war, die Regimenter sich auflösten, der Großvater aufräumte, die Küchentür schloss, wieder im Garten verschwand und uns Kinder unserem Spiel überließ.

Dieses Vespern mit unserem Großvater lässt vor meinem inneren Auge wundervolle Bilder von der sirrenden Hitze, von unserem hochsommerlichen, in den hellsten Sonnenschein getauchten blühenden Hof entstehen und der kühlen, nach frischem Brot, deftigem Speck und frisch geschnittenem Gemüse duftenden Küche, in der es zudem immer nach verschiedenen Kräutern roch, die in Bündeln zum Trocknen in einer Ecke über dem steinernen Backofen von der Decke hingen.

Eine weitere Art zu vespern, die mich beeindruckt hat, bringe ich mit unserer alten Nachbarin, der Susitante, in Verbindung, da sie es war, die uns mit einer besonderen Delikatesse bekannt machte.

Es war die Großmutter meiner kleinen Spielkameradin Hella, mit der ich viele Nachmittage in ihrem Hof, hauptsächlich im kühlen, ummauerten Kellereingang verbrachte. Hier in dieser etwas nach feuchtem Mauerwerk riechenden Ecke hatten wir uns unsere Stube eingerichtet, mit Hockern und einem alten Tischchen mit Tischdecke und mit Fleckerlteppichen auf dem Boden.

Unsere Puppen, das liebste Spielzeug zu der Zeit, bekamen Bettchen und wurden verhätschelt und vor allem gefüttert. Es waren Kunststoffpuppen und wir machten ihnen einen kleinen Schlitz in den Mund, um ihnen Brot und Suppe hineinzustopfen. Das machte das Ganze realistischer, außer dass sie nach einiger Zeit zu stinken begannen und wir ein Problem hatten.

Nun, am ersten Tag, als wir bei Hella spielten, wurden wir von ihrer Großmutter mit einer Vesper versorgt, die ich von zu Hause so nicht kannte und was mich zuerst befremdete. Die Susitante rief uns also, wir liefen in die Küche und auf dem Tisch stand der Topf mit der Palukes (Maisbrei) vom Vorabend. Ich war erstaunt und enttäuscht, hatte ich doch Hunger und mir Ähnliches vorgestellt wie bei uns oder sogar Butterbrot mit frischen Tomaten, was es bei einer anderen Freundin oft gab, oder Brot mit Griebenschmalz und just geernteten Gurken.

Dann holte die Tante die Zuckerdose aus dem Buffetschränkchen, schnitt aus dem Topf heraus sehr gekonnt glatte kalte Scheiben Palukes heraus, bestreute sie mit Zucker und reichte sie uns gut gelaunt. Ich suchte mit den Augen nach Tellern für uns, der Tisch war leer, nur der Topf und die Zuckerdose standen da einträchtig beieinander. Also nahm ich das Stück Palukes in die Hand, dem Beispiel Hellas folgend, die sich fröhlich darüber hermachte. Ich probierte zaghaft und schon nach dem ersten Bissen verflogen meine Zweifel. Dass etwas so Einfaches so gut schmecken konnte, lernte ich an diesem Nachmittag. Ich war selig und genoss mit kindlicher Begierde mein Palukeszuckerstückchen, das in dem Moment besser war als jedes Stück teure Mehlspeise aus der Konditorei. Uns winkte ein zweites Stück, das wir gerne annahmen. Ein Glas Wasser rundete die Vesper ab und schon rannten wir wieder hinaus zum Spielen, nicht ohne das übliche „Danke fürs Essen“, was wir Kinder immer nach den Mahlzeiten sagen mussten. Vergaßen wir es einmal, hieß von den Erwachsenen sofort maßregelnd: „Was sagt man nach dem Essen?“

Mir kam diese Vesper einfach vor, jedoch muss man wissen, dass zu jener Zeit Zucker für viele ärmere Menschen, und dazu gehörten unsere Nachbarn, ein teures Gut war. Also wurden wir Kinder von der Susitante aus ihrer Sicht und von ihrem Stand aus mit etwas Besonderem und Teurem verwöhnt. Da kann man nur dankbar sein.

Es gab noch verschiedene andere Arten von Vesper in meiner Kindheit, je nachdem, bei welcher Freundin ich spielte. Ehrlich gesagt, suchte ich mir manchmal eine Freundin für einen bestimmten Tag aus, um bei ihr das zu vespern, was es dort üblicherweise gab. So etwa wie, Gertrud ist gleichzusetzen mit kalten Eiern und Brot und Anna mit Johannisbeermarmeladenbrot und einem Glas Milch.

Etwas egoistisch, ich weiß, aber so sind Kinder auch. Schließlich rechtfertigte ich mein Verhalten vor mir damit, dass ich mir sagte, dass meine Freundinnen ja auch alle in Abständen zu uns nach Hause zum Spielen kamen und hier die Husaren meines Großvaters genießen konnten.

Das war ausgleichende Gerechtigkeit, meiner kindlichen Ansicht nach.

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Schlagwörter: Erzählung, Erinnerung, Literatur

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